Politische Gaumenfreuden

■ Im Ostertor ist die Kuh vom Eis: Schlachter Tietjen hat künftige Konzessionsanwärter für Kneipen im ehemaligen Kaufhaus Ostertor jetzt ausgestochen. Es kommt die Delikatesse

Seit drei Jahren ist das Ladenlokal im Ostertorsteinweg verwaist. Die Schaufenster sind blind. Früher gab es hier Kaffee und Tanz, dann eine zeitlang schrille Klamotten aus den siebzigern und noch später Kunststoffmatrazen. Alle sind gegangen. Dabei ist die Lage des Geschäfts optimal. Aber die horrenden Mieten hatten alle Interessenten abgeschreckt. Bis auf einen: Ingo Tietjen. Der Mann aus Neuenkirchen hat das Haus jetzt für seine Wild-, Geflügel- und Lammschlachterei gekauft. Ab Herbst wird er in dem Eckhaus an der Wulwesstraße Lammkeulen, Rehrücken, Wachteln, Suppen und vieles mehr feil bieten. Die Einzelhändler im Viertel hoffen, daß der neue Nachbar solide Kunden mitbringt. Nur in einem Geschäft äußerten Angestellte Bedenken.

„Wir leben hauptsächlich von unserer Stammkundschaft, für uns ist das Konkurrenz“, sagt Ella Schierling von der Fleischerei Kreienborg. Sie rechnet fest damit, daß ihre Kunden den neuen Schlachter testen werden. Junior-Schlachter Volker Safft von „Safft Karl“ sieht das anders. „Wenn der Supermarkt die Ware für 4,95 Mark raus haut, ärgert mich das viel mehr. Ingo Tietjen ist ein Mitbewerber. Er kommt von außerhalb und bringt Kunden mit, das belebt das Geschäft“, sagt er. „Wenn das Preis-Leistungsverhältnis stimmt, ist die Ergänzung doch wunderbar“, kommentiert auch Luca Reinhard den Neuzugang; er verkauft im „Weinladen Bennecke“ exquisiten Käse und Fleisch.

Tatsächlich kaufen schon jetzt einige OstertorbewohnerInnen bei Ingo Tietjen ihre Pasteten oder essen donnerstags Hühnersuppe bei ihm – und zwar in seinem Geschäft in der Vahr. Dort muß der 58jährige nun raus, das Haus wird abgerissen: Generalsanierung.

Vor neun Jahren ist Ingo Tietjen, der Bremen-Norder, in das Ladenlokal an der Berliner Freiheit gezogen, es war sein erstes Lokal in der Stadt. Bis dahin hatte er die Tier-stücke lediglich von seinem Hof aus angeboten. Aber im Winter lief der Direktverkauf nur schleppend. „Niemand kommt im November nach Neuenkirchen, um eine Gans zu kaufen“, erklärt der erfahrene Schlachter.

In der Regel kennt Tietjen 90 Prozent seiner Fleischlieferanten persönlich: Fast alle Tiere, die er verarbeitet, hat er auf seinem Hof großgezogen. Die Fasane in einer Voiliere, Kühe und Schafe auf der Weide. „Wir haben eine kleine Herde, zehn Kälber und die Mutterkuh. Die Kühe haben zwar einen Schuppen, aber da gehen sie nicht mal rein, wenn es regnet. Die stellen sich höchstens in den Windschatten – das ist Robusttierhaltung.“ Auch das Federvieh lebe bei ihm in Freiheit. Bis zum Tag X laufen 500 Gänse und bis zu 300 Hühner über die Neuenkirchener Wiesen. Dann verarbeitet der Landwirt sie selbst zu Suppen, Würsten oder anderen Spezialitäten. „Ohne Not würde ich nicht aus der Vahr weggehen“, sagt der 58jährige. Trotzdem – der neue Standort sei optimal.

Daß dieses Ladenlokal nicht zur Kneipe wurde, haben die PolitikerInnen im Ortsamt Mitte entschieden. Obwohl das Geschäft drei Jahre leer stand, blieben die Männer und Frauen bei ihrem Beschluß: Keine weiteren Kneipenkonzessionen fürs Ostertor- und Steintorviertel. „Die Kneipen sollen die Kaufmannschaft nicht verdrängen“, erklärt Robert Bücking die Richtschnur politischen Handelns. Selbst als im vergangenen Jahr drei Bremen-Norder ein Internet-Café in dem Ladenlokal planten, blieben die PolitikerInnen eisern. Der Grund: Der Schwerpunkt der drei Internet-Café Betreiber in spe lag mehr auf dem Gastronomiebetrieb – und weniger auf der Computerei.

Für den Viertel-Bürgermeister Bücking ist der geplante Zuzug Tietjens deshalb ein doppelter Grund zum Feiern. Die Kaufmannschaft ist gestärkt – und die ostertor'schen Gourmets können sich freuen. „Wenn jemand schon mal sein Osterfest mit dem Lamm eines Ingo Tietjen gekrönt hat, weiß wovon ich rede“, sagt Ortsamstleiter Bücking. Andrea Reidl