„Ich akzeptiere nicht, daß er tot ist“

■ In Kolumbien sind etwa eine Million Menschen auf der Flucht vor dem Krieg im eigenen Land. Sie retten sich in die Armutssiedlungen der Städte

Cartagena (taz) – Mühsam schnauft sich der alte Linienbus durch den Schlamm auf der Hauptstraße von San José de los Campos in der Nähe des Badeortes Cartagena an der kolumbianischen Karibikküste. Es hat den ganzen Tag über geregnet, die ungeteerte Straße hat sich in Morast verwandelt. Im ersten Gang gibt der Fahrer vorsichtig Gas, der Bus beginnt zu rutschen, kurz darauf geht nichts mehr. Vor der Bar an der Ecke ist Endstation. Der Fahrer läßt alle aussteigen, ehe er im Rückwärtsgang den Rückweg antritt. Bis zum Knöchel versinken die aussteigenden Fahrgäste im Schlamm.

„Ich hoffe, daß sie uns die Straße bald mal richten“, schimpft VanesSa Gutierrez*. Sie wohnt bereits seit zehn Jahren in San José de los Campos. Sie kam nicht freiwillig. Bis 1988 lebte sie mit ihren Eltern und Geschwistern in Achi im Norden Kolumbiens. Eines Nachts stürmten Guerilleros auf der Suche nach dem Vater das Haus ihrer Familie. Im Hof fanden sie ihn und beschuldigten ihn, ein Informant der Regierung zu sein. Sekunden später erschossen sie ihn vor den Augen seines Sohnes Jaime. Nach dem Mord fürchtete die Familie um ihr Leben. Eilig packten die Mutter und ihre drei Kinder das Nötigste zusammen und bestiegen in den Bus in die nächste sichere Stadt: Cartagena.

In den vergangenen zehn Jahren flüchteten in Kolumbien anderthalb Millionen Menschen vor dem Krieg. Über 60 Prozent aller Kriegsvertriebenen kehrte nie wieder an ihren ursprünglichen Wohnort zurück und glauben auch nicht, es je tun zu können. Über die Hälfte der Kriegsflüchtlinge ist jünger als 18 Jahre. Bei einer Umfrage gaben 36 Prozent an, niemals direkte Hilfe des Staates erhalten zu haben. Das Gesetz 387/97 definiert, wer in Kolumbien als Kriegsvertriebener gilt: „Jede Person, die sich dazu gezwungen sah, innerhalb des nationalen Territoriums ihren Wohnort zu verlassen oder ihre ökonomischen Aktivitäten einzustellen, da ihr Leben, die Unverletzlichkeit ihrer Person, ihre Sicherheit oder ihre persönlichen Freiheiten verletzt wurden oder direkt bedroht sind.“ Im Fall der Familie Gutierrez gestand die Guerilla zwei Wochen nach dem Mord am Vater, daß es ein Irrtum war. „Das ist doch total egal, die einzige Realität ist, daß er tot ist“, sagt Vanessa Gutierrez verbittert. Mit nur einem Koffer kam sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern in Cartagena an, wo andere Urlaub machen. In Achi ließen sie alles zurück, was ihnen gehörte. Um ihr leerstehendes Haus kümmert sich ein Bekannter. „Wir hoffen, daß wir dorthin zurück können, wenn alles vorbei ist“, meint Vanessas Bruder Jaime, worauf sie ihn als „grenzenlosen Optimist“ beschimpft. Seid sie Achi verließen, ist niemand von ihnen in die Gegend gereist – aus Angst. „Die erkennen dich und wissen sofort, wer du bist“, erklärt Jaime. Heimweh hat die ganze Familie. „Schließlich sind wir dort geboren und aufgewachsen“, sagt Vanessa.

In der Gegend um Achi existiert der kolumbianische Staat nicht. Es gibt keine Polizei, keine Gesundheitsposten, keine Infrastruktur. Nachdem die Guerilla dort Polizisten ermordete, schickte die Regierung keine Polizei mehr und sagte, das Dorf gehört zur Guerilla. Vanessas Vater war ein einfacher Campesino, aber die Erträge reichten zum Leben. „Niemals hatten wir hohe Posten, wir waren schon immer arm, aber wir Kinder konnten studieren, und es reichte zum Leben“, so Vanessa.

Heute lebt die Familie in einen kleinen Haus, das sie aus Betonsteinen selbst hochgezogen hat. Die Wände der Innenräume sind nicht verputzt, der Boden ist nackter Zement. Im Wohnzimmer steht ein keiner Campingtisch mit blauen Plastikstühlen. Im Haus richtete die Mutter einen kleinen Lebensmittelladen ein, der allerdings nichts abwirft. Sagen will sie nichts, denn: „Ich fürchte das Blei und bin daher lieber ruhig.“ Andere Kriegsvertriebene haben kein Haus. Nur wenige hundert Meter weiter endet die Strom- und Wasserversorgung. In dem angrenzenden Hüttendorf leben tausend Flüchtlinge. Einige Behausungen sind nur aus Pappe. Die Vertriebenen kamen oft nur mit den Kleidern hierher, die sie am Leib trugen. Als Zivilisten kamen sie zwischen die Fronten von Guerilla, Paramilitärs und Armee und flüchteten vor einer der drei Gruppen.

„Wenn wir durch das Hüttendorf gehen, sage ich immer, daß wir es gut haben“, so Vanessa. Sie hatte zu Ende studieren können und arbeitet heute in einem Plattenladen in Cartagena. Ihr Bruder Jaime, der den Mord am Vater mit ansehen mußte, ist traumatisiert. Sein Ingenieurstudium brach er ab. Er arbeitet heute auf dem Bau. „In Achi hatten wir eine feste Einnahmequelle, hier halten wir uns gerade so über Wasser“, sagte Vanessa. Aber das ist nicht das Schlimmste. „Seit mein Vater weg ist, bin ich nicht mehr glücklich. Als Kind war ich immer glücklich, soweit ich mich erinnere. Das ist jetzt vorbei“, so Vanessa. Als ältestes Kind der Familie liegt die Last der Verantwortung jetzt auf ihr. „In schwierigen Situationen denke ich immer, was er jetzt wohl machen würde, aber er ist eben nicht mehr hier. Ich kann mich damit nicht abfinden. Ich akzeptiere nicht, daß er tot ist.“ Ingo Malcher

* Name geändert