Die knallharte Diplomatin

„Ich bin belastbar.“ Michaele Schreyer, die im September als erste grüne EU-Kommissarin antritt, ist Profi durch und durch. Das muß sie auch, denn ihre konservativen Neider werden sie mit unerbittlicher Strenge beobachten  ■   Von Heike Haarhoff

Im glasüberdachten Innenhof des Berliner Abgeordnetenhauses hält sie für einen Moment inne. Ob sie nicht besser den Lippenstift nachziehen solle? Eine Frage, so nüchtern, wie nur Michaele Schreyer sie hervorbringen kann: bar jeder Koketterie, bar jeder mädchenhaften Bin-ich-schön-Verlegenheit. Der Fotograf nickt. Es ist eine Absprache unter Profis. Beide wissen um die diffusen Lichtverhältnisse in dem modernen Wintergarten, die für ein gutes Pressebild klare Gesichtskonturen verlangen. Drei Minuten später ist Michaele Schreyer wieder da. Geschminkt – perfekt und präzise.

So gewissenhaft wie alles, was die Frau bislang anpackte, die künftig, genauer gesagt ab September, in Brüssel als erste grüne EU-Kommissarin über das finanzielle Budget der 16 europäischen Mitgliedsstaaten wachen wird: Michaele Schreyer, bald 48 Jahre alt, Grünen-Politikerin seit 1983, die meiste Zeit in Berlin. Doktorarbeit über frauenpolitische Auswirkungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in Fachkreisen geschätzt. Expertisen im Auftrag des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung zur Ansiedlung von Umweltschutzindustrien in Nordrhein-Westfalen und Berlin, Zeugnisse fundierter Sachkenntnis. Mitarbeit am steuerpolitischen Konzept der Bonner Grünen Mitte der 80er Jahre, erkannte schon damals Umweltabgaben als wichtige finanz- und energiepolitische Steuerungsinstrumente. 1989 im ersten rot-grünen Berliner Senat Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt, auch sechs Christdemokraten stimmten für sie.

Parteiübergreifender Respekt, der noch gestiegen ist, seit sie als grüne Fraktionschefin auf der Berliner Oppositionsbank nächtelang Akten mit Zahlenkolonnen wälzt – mit dem Ehrgeiz einer Pfennigfuchserin und „weil sie so spannend sind“. Um anschließend im Fachausschuß oft selbst die SPD-Finanzsenatorin an haushaltspolitischer Strenge und mahnenden Appellen zur Sparsamkeit zu übertreffen.

Michaele Schreyer, eine lokalpolitische Biographie der Solidität ohne Skandale und Fehltritte. Die auf einmal bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Und für viel Unmut. Sie weiß das. „Ich mache mir keine Illusionen, daß es schwierig wird“, sagt sie und bittet in ihr Büro.

Denn vor einer Woche hat der designierte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi Schreyer als Haushaltskommissarin vorgestellt und damit in eines der begehrtesten Brüsseler Spitzenämter gehoben. Ein Karrieresprung, der nicht selbstverständlich ist. Der Mißgunst sät. Sie sei doch bloß die Quotenfrau aus dem rot-grünen Koalitionsvertrag, ätzen ihre Neider aus dem Lager der Konservativen. „Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß alle diese Kritiker ausschließlich Männer sind“, entfährt es ihr. Es ist das einzige Mal an diesem Nachmittag, daß sie eine Spur von Verärgerung zuläßt, doch im nächsten Moment hat sie sich schon wieder gefangen und erwidert kühl: „Meine fachliche Qualifikation war bisher völlig unbestritten und zudem nachprüfbar.“ Aber entspannt hört sich das nicht an.

Ein rauschendes Fest hat es nicht gegeben, als nach zweimonatiger Zitterpartie vergangenen Freitag feststand, daß Schreyer nicht nur nach Brüssel gehen, sondern mit dem Haushalt sogar für einen Bereich zuständig werden würde, der mit ihrem Wunschressort Finanzen immerhin artverwandt ist. Lediglich zu einem kleinen Empfang lud die künftige Kommissarin. Es wäre nicht ihre Art, sich ohne Not ins Rampenlicht zu drängen. Auch eine halbe Woche später will nichts in ihrem Berliner Büro so richtig europäische Aufbruchstimmung vermitteln. Da hängt kein Poster mit den künftigen Euro-Geldnoten an der Wand. Statt dessen der leicht vergilbte Aufruf „Kein Atommüll nach Gorleben“. Auf dem Schreibtisch lagern Überreste der Berliner Mauer, die aussehen, als würden sie regelmäßig abgestaubt.

Hat sie in den vergangenen Jahren gezielt auf einen europäischen Posten hingearbeitet? Die Antwort fällt mit einer einsilbigen Ehrlichkeit aus, wie sie unter Politikern selten ist: „Nein.“ Wie auch? „Wir sind eine kleine Partei“, sagt sie fast entschuldigend, eine, in der man sich nicht so einfach zur Spezialisierung auf die Europäische Gemeinschaft zurückziehen kann, weil jede Hand gebraucht wird. Und sie war eben in Berlin, fest eingebunden in die Landespolitik, in der man „selbstverständlich“, sie klingt fast trotzig, „ständig auch mit EU-Entscheidungen und -Politik und Fragen der Globalisierung zu tun hat, gerade als Ökonomin“. Und schließlich – sie hat Mühe, die Süffisanz in der Stimme nicht noch durch ein hämisches Grinsen zu unterlegen – „hat der politische Aktionsraum ganz offensichtlich wenig mit Kompetenz zu tun“. Sie macht eine Kunstpause, bevor sie an die Skandalkommissarin aus Frankreich erinnert: „Frau Cresson war früher Premierministerin.“

Was aber treibt Michaele Schreyer nach Europa? „Wissen Sie“, sie lächelt, „wenn man so lange auf der Oppositionsbank gesessen hat, entsteht so etwas wie Ungeduld.“ Bei aller Begeisterung für Dreisatz und Prozentrechnung endlich wieder selbst Politik machen zu dürfen. Zu entscheiden, zu gestalten. War die Not so groß, daß sie im Zweifel auch die Nachfolge von Bundesumweltminister Trittin angetreten hätte, wenn Prodi ihn statt ihrer nach Brüssel geholt hätte? Sie guckt leicht pikiert. „Diese Frage beantworte ich nicht. Unser Umweltminister heißt Trittin.“

„Michaele“, sagt ein Parteifreund anerkennend, „ ist unsere fleißigste Parlamentarierin.“ Eine, die still und im Hintergrund arbeitet und dann mit erstaunlichen Leistungen aufwartet. Das Programm „Umbau der Industriegesellschaft“, das den Grünen einst einen erheblichen Zuwachs an Wählerstimmen bescherte, trägt ihre Handschrift; vorgestellt haben es andere. Jeder nimmt ihr ab, daß sie mit der Hartnäckigkeit einer Sachbearbeiterin auch in die Abgründe der kürzlich beim Berliner Gipfel verabschiedeten EU-Finanzplanung bis 2006 – Volumen 1,4 Billionen Mark – tauchen wird.

Aber reicht das aus, um in einem System zu bestehen, von dem im vergangenen Frühjahr, da Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft nicht mehr zu leugnen waren, lediglich die Spitze zurücktrat? Genügt das, um als Kommissarin – nicht bloß zuständig für den Haushalt, sondern auch für die Korruptionsbekämpfung – einen Apparat in den Griff zu kriegen, in dem jahrzehntelang ein Geist herrschte, der die Genese peinlicher Interessenskonflikte gepaart mit dreistem Unrechtsbewußtsein wie jüngst im Fall Martin Bangemann geradezu beflügelte? Da sagt sie nur: „Man wird Verhaltensregelungen künftig konkreter fassen müssen.“ Und, kurz darauf: „Ich bin belastbar.“ Jeder Satz eine Vorsichtsmaßnahme.

Michaele Schreyer weiß: Jede ihrer Äußerungen, jede ihrer Amtshandlungen wird mit unerbittlicher Strenge beäugt werden, vor allem von den eifersüchtigen Konservativen im Europaparlament. Aus Frust, trotz ihres Sieges bei der Europawahl nicht mit einem eigenen deutschen Kommissar bedacht worden zu sein, haben CDU und CSU bereits angedroht, gegen die unliebsame Grüne in Brüssel ein „Sonderverfahren“ durchsetzen zu wollen, um sie loszuwerden. „Als Oppositionspolitikerin kann ich den Ärger nachvollziehen“, Schreyer gibt sich großmütig, „aber wenn der bayerische CSU-Ministerpräsident Stoiber dann ankündigt, daß die deutschen Kandidaten gezielt abgesägt werden sollen, dann widerspricht das dem Geist des Vertrags von Amsterdam.“

Ihr Ziel, die Frau aus Berlin einzuschüchtern, haben die Konservativen freilich nicht erreicht. Denn die Grüne, die nicht nur aussieht wie eine Diplomatin, sondern auch so spricht, ist bei aller Zurückhaltung keine Duckmäuserin. Wenn sie sagt, daß sie in Brüssel „erst einmal Gespräche führen“ wolle, um herauszufinden, „welche Strukturen geändert werden müssen“; wenn sie bestimmt erklärt, daß sie sich noch „kein Urteil“ darüber erlauben werde, welche Haushaltsreform am dringendsten, welche Veränderung am nötigsten, welcher Schwerpunkt ihr in ihrer Politik am wichtigsten sein werde, dann garantiert nicht, weil sie ahnungslos oder entscheidungsscheu wäre. Michaele Schreyer ist eine, die zuhört. Die abwägt. Die vorschnelles Vorpreschen „nach dem Motto, hoppla, ich weiß alles besser“ verabscheut. Und die dann aber, wenn sie sich ihre Meinung gebildet hat, knallhart und kompromißlos auftritt. Zu spüren bekam das vor knapp zehn Jahren der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD), dem Schreyer mit ihrer Verweigerung zur Inbetriebnahme des umstrittenen Forschungsreaktors am Berliner Hahn-Meitner-Institut und ihrem Nein zur Daimler-Benz-Ansiedlung am Potsdamer Platz arg zusetzte.

In Brüssel erwarten sie größere Widerstände. Ihrem Vorgänger, dem in der Kommission durchaus angesehenen Finnen Erkki Liikanen, der als einer der wenigen Altkommissare bleiben darf und sich künftig um Unternehmenspolitik und Informationstechnologie kümmern wird, war es nicht gelungen, den Haushalt zu sanieren. Nach wie vor geht ein Hauptteil für unsinnige Subventionen der Landwirtschaft drauf, sind die Gestaltungsspielräume für die zuständigen Kommissare gering. Auf die EU-Erweiterung dagegen ist der Haushalt nicht vorbereitet. Allein der Beitritt des Agrarlandes Polen würde den Etat – bei gleichem Subventionsniveau – wahrscheinlich sprengen. Schreyer schreckt das alles nicht. „Der beschlossene Stabilitätspakt für Südosteuropa muß auf einem soliden finanziellen Sockel stehen“, das ist für sie die Hauptsache. „Die Debatte wird sich dann darum drehen: Erweitert man den Rahmen, oder verlagert man den Druck?“ Naiv, wer dachte, sie würde jetzt verraten, wohin sie tendiert: „Ich maße mir nicht an, schon jetzt den Überblick zu haben, von daher lege ich mich nicht fest.“

Die nächsten Tage und Wochen wird sie ohnehin anderes im Kopf haben. Sie wird sich in Brüssel eine Zweitwohnung und anhand der strengen EU-Kriterien einen neuen Mitarbeiterstab suchen müssen; keiner ihrer Vertrauten aus Berlin, soviel steht fest, geht mit. Und danach?

Sie will alles daransetzen, das Vertrauen in die Kommission bei Parlament und Bevölkerung zurückzugewinnen. Wie, bitte, das? Da grinst sie: „Also, ich finde, daß ich beispielsweise schon schwer dafür gesorgt habe, daß jeder weiß, wer die neue deutsche EU-Kommissarin werden wird.“