Schnaps vor Helgoland gesichtet

Norbert Theobald und seine Kollegen im Bundesamt für Hydrographie sind Spezialisten, wenn es darum geht, Trillionstel Gramm einer Substanz aus dem Meereswasser zu fischen  ■ Gernot Knödler

Im Laboratorium von Norbert Theobald in Sülldorf steht ein Glasballon, der so groß ist, daß sich der Besucher unwillkürlich einen präparierten siamesischen Zwilling aus der Pathologie darin vorstellt. 100 Liter faßt das „Standard-Probengefäß“ des Meereschemikers. Dabei suchen Theobald und seine Kollegen vom Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) nur winzige Mengen von organischen Schadstoffen, Schwermetallen und radioaktiven Substanzen. Das, worauf seine Mitarbeiter aus sind, tritt in Grö-ßenordnungen von Milliardstel bis Trillionstel Gramm auf, sagt Peter Ehlers, der Präsident des Bundesamtes. „Wenn Sie hier ein Schnapsglas in die Elbe schütten, können wir das vor Helgoland noch feststellen.“

Trotz ihrer hochentwickelten Analysemethoden, und obwohl sie schon seit mehr als 30 Jahren Nord- und Ostsee untersuchen, sind die Forscher vom BSH sehr vorsichtig, wenn sie den Zustand der beiden Meere einschätzen sollen. Häufig reichen die Meßreihen nicht lange genug in die Vergangenheit zurück, um verläßlich Trends erkennen zu lassen. Falls doch, haben sich die Analysemethoden und ihre Fehlerquoten oft so stark verändert, daß die Meßergebnisse schwer vergleichbar sind. Trotzdem, sagt Ehlers, „manches wendet sich zum Besseren“.

Wie Ehlers Kollege Norbert Theobald feststellte, hat zum Beispiel die Konzentration der organischen Verbindung alpha-Hexa-chlor-Cyclo-Hexan (alpha-HCH) – ursprünglich Bestandteil des Insektenvernichtungsmittels Lindan – in Nord- und Ostsee seit 1984 um 50 bis 90 Prozent abgenommen, je nach Seegebiet. 1975 war die Anwendung des Stoffs in Europa verboten worden, jetzt zahlt sich das aus.

Um vor Ölverschmutzungen abzuschrecken, hat das BSH ein analytisches Verfahren entwickelt, mit dem die Zusammensetzung einer Ölprobe genau ermittelt werden kann. Der so erzeugte „Fingerabdruck“ des Öls wird mit einer Datenbank verglichen, in der die Charakteristika von 150 Rohölen aus aller Welt festgehalten sind. Verbunden mit Zeit und Ort der Einleitung läßt sich feststellen, von welchem Schiff das Öl stammt. 870 Strafverfahren wurden seit 1984 auf dieser Grundlage geführt.

Abgenommen hat auch die Konzentration von Schwermetallen in der Nordsee. Außerdem ist die Überdüngung des Meeres, die zu Sauerstoffmangel, giftigen Algenblüten und schließlich zum Umkippen eines Gewässers führen kann, nach Erkenntnissen der Sülldorfer Forscher kein Problem mehr. Hier sei heute im Prinzip der Stand der dreißiger Jahre wieder erreicht, als die Landwirtschaft noch mit wenig Mineraldünger arbeitete.

Für die Umweltstiftung WWF ist das immer noch zuviel. „Nach dem aktuellen Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Beschlüsse der Nordseeschutzkonferenz vom Juni 1998 wurde die vereinbarte 50prozentige Reduktion der Stickstoffeinträge bei weitem verfehlt“, schreibt der WWF. Zwischen 1985 und 1995 sei bloß eine Verminderung um 17 Prozent erreicht worden. Hauptverursacher sei neben dem Verkehr die deutsche Landwirtschaft.

Auch die Konzentration von Pflanzenschutzmitteln ist den Umweltschützern zu hoch. „Nach einer Untersuchung der Universität Hamburg vom Juli 1998 hat die Pestizidkonzentration in den deutschen Gewässern und in der Nordsee in den letzten Jahren nicht signifikant abgenommen“, stellt der WWF fest. Ein Drittel der untersuchten Stoffe liege über dem Grenzwert für Trinkwasser. Viele dieser Stoffe beeinträchtigten die Artenvielfalt – trotz der starken Verdünnung im Meer.

Der Casus Cnacktus ist hier die Entfernung zur Küste. Je näher Meerestiere und -pflanzen an den Küsten der Deutschen Bucht leben, desto schmutziger ist ihre Wohnstube. „Ozeanisches Meerwasser ist reiner als das Material, das sie fürs Labor kaufen können“, sagt Diether Schmidt, der beim BSH für die Spurenmetalle zuständig ist. Unser Trinkwasser erschiene als Chemiecocktail, wenn es mit den ausgefuchsten Methoden der Sülldorfer Chemiker untersucht würde. Doch die Hochsee muß auch sauber sein. „Wir befinden uns schließlich nicht ständig in Trinkwasserumgebung“,sagt Norbert Theobald – im Gegensatz zu den Fischen und Krebsen.

Weil die Umgebung, in der Menschen leben, alles andere als sauber ist, haben die Sülldorfer Chemiker spezielle Reinsträume eingerichtet, um Proben aus dem Meer untersuchen zu können. Hinter einer ersten Tür treten die ForscherInnen auf schwarze, klebrige Plastikmatten, die den Staub von den Kleider anziehen. Durch eine Drehtür, die einen direkten Luftaustausch verhindert, gelangen sie in den Reinstraum, durch den aber noch immer viel zu viele Teilchen schwirren. Der Chemieingenieur Peter Freimann beweist es mit einem kleinen schwarzen Kasten. Die Digitalanzeige des Teilchenzählgeräts zwinkert sich innerhalb von zwei Minuten auf 50.000. Nach zehn Minuten hat sie 700.000 Partikel pro Kubikfuß ermittelt – unsichtbare Teilchen bis hinunter zu einer Größe von lediglich drei zehntausendstel Millimetern.

Im kaum sichtbaren Staub in einer Petrischale ist praktisch das gesamte Periodensystem vertreten, wie es an der dahinterliegenden Wand hängt. Ein Abstrich von einem Ölgemälde mit dem Wattestäbchen genügt den Chemikern, um über chemische Bestandteile der Farben ein Original von der Fälschung zu unterscheiden. Ihre Proben untersuchen die Chemiker deshalb in sogenannten Clean Benches, Schneewittchensärgen, in die turbulenzenfrei gefilterte Luft gedrückt wird. Der Staub bleibt draußen, der Teilchenzähler zeigt eine kaum glaubhafte Null.

Doch selbst wenn die Stoffe im Meer in so geringen Konzentrationen auftauchen, daß ein ausgefeiltes Analyseinstrumentarium nötig ist, um sie aufzuspüren – Entwarnung wollen die Leute vom BSH nicht geben. Jedes Jahr synthetisiert die chemische Industrie lange Listen neuer Verbindungen, von denen viele im Meer landen.

Kaum stellen die Forscher einen bescheidenen Effekt der Gesetzgebung zu Problemstoffen der Vergangenheit fest, geben neue Chemikalien Anlaß zur Sorge: etwa Bestandteile von Arzneien oder synthetische Moschusverbindungen, die Wasch- und Körperpflegemittel anziehender machen sollen. „Der Cocktail, den wir da haben, ist ganz gewaltig“, sagt Norbert Theobald. Mögen die einzelnen Chemikalien halbwegs harmlos sein – in ihrer Kombination können sie einen Kolben Meerwasser zum Schierlingsbecher machen.

Um die neuen Stoffe zu finden, unterzieht das BSH die vielen Proben aus Nord- und Ostsee einer Massenspektroskopie: Anhand ihres Gewichts werden etliche tausend Verbindungen identifiziert. Die meisten von ihnen sind biologischen Ursprungs. Von den künstlich erzeugten stehen 300 bis 400 auf roten Listen. Drei Eigenschaften machen sie gefährlich: Sie sind giftig, sie bleiben lange erhalten und reichern sich über die Nahrungskette in Organismen an.

Neu auftauchende Stoffe werden dem Umweltbundesamt in Berlin gemeldet. Obwohl das BSH administrativ zum Verkehrsministerium gehört, arbeiten die 40 SülldorferInnen zu 99 Prozent dem Bundesumweltministerium zu. Um das offene Meer kümmern sich neben dem BSH außerdem die Bundesforschungsanstalt für Fischerei und das Alfred-Wegener-Institut für Ostseeforschung. Innerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone, also in deutschen Hoheitsgewässern, sind Einrichtungen der Bundesländer zuständig.

Als Erfolg ihrer Kärrner-Arbeit verbuchen die ChemikerInnen den Rückgang der Quecksilber-Einträge. Quecksilber-Fieberthermometer sind in Krankenhäusern früher einfach in den Müll gewandert, ebenso quecksilberhaltige Abfälle in Zahnarzt-Praxen, sagt Diether Schmidt. Heute werden Quecksilber-Thermometer kaum noch verwendet. Das Bewußtsein der Menschen in den Industrieländern hat sich stark verändert.

Leider nicht bei allen, wie die Radioaktivitätsmeßreihen des BSH zeigen. An den Konzentrationen des Radionuklids Cäsium 137, die bei den Feuerschiffen Elbe 1 und Borkumriff gemessen wurden, läßt sich beispielsweise die atomare Geschichte der vergangenen 40 Jahre ablesen: Ein breiter Gipfel in der ersten Hälfte der 60er Jahre verweist auf die oberirdischen Atombombentests, Spitzen aus den 70er und 80er Jahren auf Einleitungen aus den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague und Sellafield und der höchste Gipfel auf das Reaktorunglück von Tschernobyl.

Die allgemeine Tendenz in Nord- und Ostsee ist jedoch fallend. „Im Vergleich zu der Konzentration der natürlichen Radionuklide im Meer liegen die Konzentrationen der künstlichen Radionuklide extrem niedrig“, stellt das BSH fest, „so daß eine Gefährdung von Flora und Fauna oder eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Bevölkerung durch den Verzehr von Fisch oder anderen Meeresprodukten nicht zu befürchten ist.“