Press-Schlag
: Die holprige Erneuerung

■ Jeder kocht sein eigenes Dopingsüppchen bei der diesjährigen Tour de France

„Doping existiert nach wie vor in der Tour“, sagt Christophe Bassons und spricht damit aus, was ohnehin niemand bezweifelt hat. Nur die allernaivsten Radsportfans glauben, daß nach den Turbulenzen des vergangenen Jahres plötzlich der Geist der Sauberkeit über die Tour de France gekommen ist und alle Fahrer auf einmal darauf verzichten, wenigstens jene illegalen Mittel zu sich zu nehmen, die nachweisbar sind. Darüber hinaus lädt ein Hämatokritgrenzwert von 50 Prozent praktisch dazu ein, das Mittel Epo solange einzunehmen, bis dieser Wert nur noch leicht unterschritten ist, und ebenso wie bei den Schwimmern oder Skilangläufern gibt es auch bei den Radfahrern eine erstaunlich hohe Rate von ärztlich attestierten Asthmaerkrankungen. Eine gängige Praxis, um die legale Einnahme ansonsten verbotener Kortikoide zu ermöglichen.

Keine besonders sensationelle Erkenntnis also, die Monsieur Bassons da verbreitet, und es erhebt sich die Frage, was den Franzosen dann so berühmt werden läßt. Ganz einfach: Der 25jährige ist selbst Radprofi und war bis zum letzten Freitag Teilnehmer der Tour. Dann stieg er aus, weil er dem Psychoterror nicht mehr gewachsen war, der jene trifft, die gegen die strenge Omertá, die Mauer des Schweigens in der Radlergilde, verstoßen. „Die Mafia des Pelotons hat ihn zerstört“, kommentierte ein altgedienter französischer Journalist den Fall. Spitzenreiter Lance Armstrong selbst soll dem vorwitzigen Kollegen nahegelegt haben, den Mund zu halten oder zu gehen.

Stein des Anstoßes war Bassons Kolumne in Le Parisien, die er dadurch bekommen hatte, daß ihn der mit einer Fuhre Dopingmitteln erwischte Festina-Masseur Willy Voet im letzten Jahr als den einzigen Fahrer der Mannschaft bezeichnet hatte, der keine verbotenen Mittel nahm. „Wir erinnern unsere Leser daran, daß Bassons die Tour nur mit Brot und Wasser fährt“, pflegte die Zeitung die Kolumne einzuleiten, eine Behauptung, die hellen Spott im Fahrerfeld hervorrief. Für die anderen Radprofis ist Bassons Rolle als „Paladin einer sauberen Tour“ (Gazzetta dello Sport) bloß die geschickte Masche eines mittelmäßigen Fahrers, sich ins Gespräch zu bringen. „Was er sagt, ist weder gut für seine Mannschaft noch für den Radsport“, schimpfte Armstrong.

Für ihn selbst schon gar nicht, vergaß der Amerikaner hinzuzufügen, denn als souveräner Spitzenreiter ist er bei der „Tour der Erneuerung“ (Renn-Direktor Jean-Marie Leblanc) besonderer Beobachtung ausgesetzt. Jeder, der heutzutage schneller radelt als andere, gilt sofort als hochverdächtig; gleichzeitig bietet das Thema Doping allen Beteiligten die Möglichkeit, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Wer vorn ist, schwadroniert von Sauberkeit, wer hinten hängt, prangert jene an, die vorn fahren.

Wir sind clean und die anderen nicht, lautet derzeit eine beliebte Litanei in der französischen Öffentlichkeit und bei den erfolglosen französischen Teams. Besonders Armstrong, anderswo als strahlend auferstandener Held gefeiert, ist ihnen suspekt. Ein Leistungssprung wie der des Amerikaners, so die Logik des heutigen Spitzensports, kann nur medikamentös induziert sein. Welches wundersame Mittel der 27jährige jedoch benutzen soll, das alle anderen nicht haben, weiß niemand zu sagen. Statt dessen gibt es wilde Spekulationen wie jene des französischen Parlamentsabgeordneten Alain Neri, der ominöse „therapeutische Behandlungen“ anführt und sich darüber wundert, daß Fahrer heute mit geschlossenem Mund die Berge hinaufradeln, während sie früher „verzweifelt nach Luft schnappten“.

Armstrong betont, daß er geheilt sei und keine Krebsmedikamente mehr einnehme.

Bleibt der Fakt, daß ein bisher zwar hoch-, aber nicht spitzenklassiger Radprofi plötzlich allen davonfährt und, wenn er nach dem heutigen Ruhetag die letzte schwere Etappe am Dienstag durch die Pyrenäen gut übersteht, diese Tour vermutlich klar für sich entscheiden wird. Sportlich gesehen ist das weniger verwunderlich, als wenn ein 23jähriger (Ullrich 1997) oder 32jähriger (Riis 1996) überraschend die Tour gewinnt. Auch ein Miguel Induráin war mit 27 Jahren im besten Radsportalter, als er den ersten seiner fünf Siege holte, und die Transformation vom Etappenfahrer zum Rundfahrtspezialisten läßt sich mit entsprechendem Training bewerkstelligen. Dennoch wäre Lance Armstrong gut beraten gewesen, wenn er sich gegenüber Christophe Bassons nicht gar so weit aus dem Fenster gelehnt hätte.

Ob der im nächsten Jahr wieder dabei sein wird, ist äußerst fraglich. „Man kann nicht zur gleichen Zeit reden und gut fahren“, hat ihm sein erboster Teamchef Marc Madiot mit auf den Heimweg gegeben. Doch ob mit oder ohne Bassons, klar ist, daß Leblancs Erneuerung der Tour holpriger daherkommt, als das Kopfsteinpflaster beim Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix. Matti Lieske