■  Joschka Fischer, der Wert darauf legt, kein grüner, sondern der deutsche Außenminister zu sein, redet über Krieg und Moral, die Lehren des Kosovo-Konflikts, seine eigenen Fehler sowie darüber, was er in den letzten Monaten von seiner eigenen Partei gelernt hat
: „Ich fühle mich nicht als Sieger des Krieges“

taz: Sie haben den Kosovo-Krieg einmal als schwierigen, bitteren Lernprozeß bezeichnet. Was hat der Außenminister Joschka Fischer in den vergangenen Monaten gelernt?

Joschka Fischer: Sehr viel. Um das alles aufzuzählen, reicht kein Interview.

Was war Ihre wichtigste Erfahrung?

Daß Frieden und Sicherheit in Europa unteilbar sind. Es gibt nur einen europäischen Frieden, nur eine europäische Sicherheit. Und dafür tragen wir Europäer die Verantwortung.

Haben Sie auch etwas über die Grünen gelernt?

Über die lerne ich beständig, dazu bedurfte es nicht des Kosovo-Krieges.

Keine besonderen Erkenntnisse über Ihre eigene Partei?

Nein, keine.

Wer lernt, der macht meist auch Fehler. Sie auch?

Jeder, der von sich behauptet, er ist fehlerfrei, leidet an maßloser Selbstüberschätzung. Die Frage ist, ob man die Fehler erkennt und daraus lernt. Man sollte sie nach Möglichkeit nicht zweimal machen.

Welche Fehler haben Sie während des Kosovo-Krieges gemacht?

Es ist schwer, hier von Fehlern zu sprechen. Im Rückblick sieht manches natürlich anders aus. Wir alle sind heute klüger als vor dem Krieg. Da ist es leicht zu sagen, wir hätten von Anfang an gegenüber Miloševic viel energischer auftreten müssen.

War es falsch, auf die Drohung mit einem Bodenkrieg zu verzichten?

So eingeschränkt meine ich das nicht. Wir hätten von Anfang an alle unsere politischen und militärischen Mittel umfassend nutzen sollen. Einer der großen Fehler war, daß es im Herbst 1998 im UN-Sicherheitsrat nicht gelungen ist, eine Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta zu erreichen. Schuld daran war die Blockadehaltung Rußlands. Vielleicht hätte man mit einer UN-Resolution damals den Kosovo-Konflikt eindämmen können, so daß es nicht zu den ethnischen Vertreibungen und grauenhaften Massenmorden, daß es nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation gekommen wäre.

Viele Deutsche haben ihre Haltung während des Krieges mehrfach korrigiert und geändert. Die meisten waren innerlich hin und hergerissen. Ging es Ihnen persönlich auch so?

In der zentralen Frage war ich nicht zerrissen: Miloševic darf sich mit seiner nationalistischen, faschistischen Politik nicht durchsetzen, und wenn es notwendig ist, muß dagegen mit der Waffe gekämpft werden. Hätten wir das nicht getan, wären die Konsequenzen für Europa, für uns alle furchtbar gewesen. Aber die Frage, ob ich alles richtig gemacht habe, die unschuldigen Opfer, die große Verantwortung, die Härte der Auseinandersetzung, Selbstzweifel – das alles hat es gegeben, und es war nicht immer einfach für mich.

Halten Sie die übertriebene Moralisierung des Krieges, die Vergleiche mit Hitler und Auschwitz heute immer noch für richtig?

Ich kann es nicht mehr hören! Niemand hat behauptet, daß Miloševic Hitler ist oder daß im Kosovo ein zweites Auschwitz geschehen ist. In der Öffentlichkeit sind diese historischen Verweise aber als Gleichsetzung empfunden worden. Es ist aber keine Gleichsetzung. Ich sage nur, daß Miloševic die völkische Politik der zwanziger und dreißiger Jahre betreibt, die auf brutale Gewalt gegen andere Völker setzt. Für mich gibt es zwei Konsequenzen aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts: Nie wieder Krieg! Und: Nie wieder Auschwitz! Das eine heißt, daß Deutschland nie wieder andere Völker überfallen und unterdrücken darf. Und: Nie wieder Auschwitz! ist die historische Mahnung, einen Völkermord oder eine Politik, die dorthin führt, nicht zu akzeptieren. In Lichtenhagen, wo Molotowcocktails auf Asylbewerber geworfen wurden, habe ich auch gesagt: Wehret den Anfängen! Damals hat mir kein Linker vorgeworfen, ich würde Auschwitz relativieren. In bezug auf die blutigen Erfahrungen auf dem Balkan wird dieses Argument plötzlich verdächtigt. Diese Debatte irritiert mich. Ich finde sie erschreckend.

Fühlen Sie sich als Sieger des Kosovo-Krieges?

Ich war überzeugt davon, daß Miloševic nicht gewinnen wird. Aber deswegen fühle ich mich noch lange nicht als Sieger. Es ging um die europäische Sicherheit und um die Frage, ob wir in einem Europa des Nationalismus oder der Integration leben wollen.

Anders gefragt: Hat der Westen seine Kriegsziele erreicht?

Was waren denn die Kriegsziele?

Warum fragen Sie uns das?

Ich tue mich mit den klar definierten Kriegszielen, die man jetzt so einfach bilanzieren kann, nicht aus rhetorischen Gründen schwer. Sie waren uns zu einem großen Teil von Miloševic und seiner Politik aufgezwungen. Niemand, auch die USA nicht, wollte, daß es zu dieser Konfrontation mit Belgrad kommt. Keiner wollte Krieg führen – außer Miloševic.

Aber Sie werden doch wohl nicht bestreiten wollen, daß die Nato mit ihrer militärischen Intervention klare Ziele verfolgt hat. Und die Frage war, ob die Allianz diese Ziele erreicht hat.

Die Menschen sind zurück im Kosovo, die territoriale Integrität Jugoslawiens ist gewährleistet, und wir können heute sagen, daß Miloševic keine Zukunft mehr hat. Er ist mit seiner nationalistischen Politik gescheitert. Jetzt müssen wir die europäische Einigung vorantreiben. Der Kosovo-Konflikt wird diesen Weg beschleunigen.

Die Albaner kehren in das Kosovo zurück – aber gleichzeitig flieht ein Großteil der Serben von dort. Halten Sie das Ziel eines multiethnischen Kosovo noch für realistisch?

Ja. Ein multiethnisches Kosovo ist Kernbestandteil der UN-Resolution 1244. Die zivilen und militärischen Kräfte vor Ort haben die Aufgabe, diese Resolution ohne Wenn und Aber durchzusetzen.

Aber die Häuser der Serben werden teilweise unter den Augen der Nato-Friedenstruppen niedergebrannt, die Serben werden gefoltert und erschossen.

Was wir jetzt erleben, ist die Folge der ethnischen Vertreibungen der Albaner, der grauenhaften Morde, der systematischen Zerstörung der albanischen Dörfer. Es ist ein Klima der Rache entstanden. Dahinter steckt teilweise die gleiche perverse Logik wie die der serbischen Führung: die Vertreibung einer ganzen Volksgruppe. Gegen diese Politik haben wir Krieg geführt, und wir werden das auch gegenüber den Verantwortlichen auf der albanischen Seite durchsetzen. Ein demokratisches Kosovo kann nicht auf Rache, sondern nur auf dem Recht aufgebaut werden. Allen Volksgruppen – den Albanern, den Serben, auch den Roma – muß das friedliche Zusammenleben ermöglicht werden.

Viele halten das für unmöglich.

Wer das behauptet, der hat wenig Ahnung von der europäischen Geschichte. Tschechen und Deutsche, Polen und Deutsche, Franzosen und Deutsche, Juden und Deutsche – hätte man es vor sechzig Jahren für möglich gehalten, daß wir heute in einem gemeinsamen Europa leben, daß es in Deutschland wieder blühende jüdische Gemeinden gibt? Für jemanden, der 1945 der Hölle der Vernichtungslager entkommen ist, war das unvorstellbar. Heute ist es Realität. Versöhnung ist möglich – wenn man sich verabschiedet von den Ursachen für diese Morde und Verbrechen, und das ist der Nationalismus.

Der Ungar György Konrád, Präsident der Berliner Akademie der Künste, hält den albanischen Nationalismus für das umgekehrte Abbild des serbischen Nationalismus und wirft dem Westen vor, er hätte sich mittels universalistischer Menschenrechtsrhetorik für einen ihm sympathischen balkanischen Nationalismus entschieden.

Ich schätze György Konrád sehr, aber in der Kosovo-Frage hat er sich verrannt. Es ist abwegig, dem Westen zu unterstellen, er unterstütze den albanischen Nationalismus. Das Gegenteil ist der Fall. Das war eine der schwierigsten Punkte bei den Rambouillet-Verhandlungen: Die Albaner wollten ursprünglich nicht unterschreiben, weil der Westen von Anfang an gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo war.

Warum war der Westen dagegen?

Weil jede Grenzänderung auf dem Balkan äußerst gefährlich ist. Das hat die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991/1992 gezeigt. Eine Teilung des Kosovo hätte bedeutet, daß der albanische Teil nach Albanien gewollt hätte. Dies hätte Makedonien zerrissen. Davon wären sofort Griechenland und Bulgarien berührt gewesen. Und schon wären wir mitten im Balkan-Krieg von 1913 gewesen. Die ganze Logik der Verschiebung von Grenzen und der Bildung von neuen Nationen muß durchbrochen werden. Solange man innerhalb dieser Logik bleibt, wird es auf dem Balkan nur eine blutige Runde nach der anderen geben. Dem Nationalismus muß man die europäische Integration entgegensetzen. Das ist die Idee des Balkan-Stabilitätspaktes.

Wird man diese Logik des Nationalismus durchbrechen können, solange Miloševic an der Macht ist?

Nein.

Also gibt es auch keinen Frieden auf dem Balkan?

Vom Frieden sind wir noch weit entfernt. Wenn die Waffen schweigen, die Gewalt im Hintergrund aber nach wie vor die Macht ausübt, dann ist das für mich kein Frieden.

Muß sich der Westen vorhalten lassen, Miloševic an der Macht gelassen zu haben, um den Krieg beenden zu können?

Nein. Es ist allein Sache des serbischen Volkes, Miloševic loszuwerden. Ich bin überzeugt davon, daß es dieses Problem auch lösen wird. Da, wo wir können, werden wir alles tun, um eine demokratische Alternative zu Miloševic zu unterstützen.

Während des Krieges hieß es, mit Miloševic werde es keinen Frieden geben. Und jetzt stellen Sie sich hinund sagen der serbischen Bevölkerung, das Problem müßt ihr allein lösen.

Sollen wir auf Belgrad marschieren, oder wie? Es würde mich erstaunen, wenn das der Vorschlag der taz wäre.

Wir stellen nur den Unterschied fest zwischen dem großen Engagement während des Krieges und der Zurückhaltung jetzt.

Waren Sie mal im Kosovo?

Nein.

Dann würden Sie diese Frage nicht mehr stellen.

Erklären Sie uns, was Sie dort erlebt haben, damit wir Sie verstehen.

Miloševic hat die albanische Bevölkerung im Kosovo seit 1998 mit terroristischen Methoden vertrieben, er hat Krieg gegen sie geführt. Gleichzeitig hat er die Nachbarländer destabilisiert und damit den Frieden in Europa gefährdet. Deswegen hat die Nato militärisch interveniert – und nicht, weil Miloševic seit zehn Jahren ein Apartheid-Regime aufrechterhalten hat, das jedem Vergleich mit Südafrika standgehalten hat. Es ging nie darum, einen Diktator zu beseitigen, der einem nicht paßt. Davon gibt es leider viele auf der Welt.

Zum ersten Mal seit rund 125 Jahren hat Deutschland sich an einem Krieg beteiligt und gehörte hinterher nicht zu den Besiegten. Verliert das Kriegführen für die Deutschen seinen Schrecken?

Ich glaube, die deutsche Bevölkerung hat mehrheitlich verstanden, daß es im Kosovo nicht um das Kriegführen ging. Insofern kann es auch nicht seinen Schrekken verlieren. Wenn Sie schon auf 1871 anspielen – mit diesem Vergleich werden alle Unterschiede zwischen damals und heute deutlich. Im Kosovo haben die Deutschen doch keinen Krieg im nationalstaatlichen Sinne geführt. Es war kein Krieg für deutsche Interessen, wir wollten keine anderen Länder erobern oder unseren Einfluß ausdehnen. Es ist uns ein Krieg aufgezwungen worden, um das Existenzrecht der Kosovo-Albaner zu wahren, und zwar nicht nur aus allgemeinen menschenrechtlichen Gründen, sondern weil das friedliche Zusammenleben der Völker auf dem Balkan und damit in Europa bedroht war.

Kritiker befürchten, militärische Einsätze wie die im Kosovo werden die neue Normalität sein. Wie oft werden wir denn solche Kriege führen: einmal im Jahr, einmal in fünf Jahren?

Diese Frage zeigt schon Ihre Haltung. Sie fragen nicht etwa, wie oft Leute massakriert und vertrieben werden, sondern wie oft wir Kriege führen werden. Daß zum Beispiel die Tragödie in Angola immer noch anhält, auch, weil sie mit einer militärischen Intervention nicht zu lösen ist, das spielt bei Ihnen keine Rolle. Wir sind doch kein Weltpolizist!

Wenn der Kosovo-Krieg wirklich die ganz große Ausnahme war, wie Sie sagen: Wovon wird es dann abhängen, ob der Westen zukünftig militärisch eingreift?

Es geht nicht um hehre Prinzipien, die wir aufstellen und deren Verletzung dazu führt, daß wir intervenieren. Mord und Vergewaltigung gibt es überall auf der Welt, und es ist überall zu verurteilen, nicht nur im Kosovo. Aber wir haben dort militärisch eingegriffen, weil Verbrechen gegen die Menschlichkeit in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert sind und dadurch die Sicherheit in Europa gefährdet war. Daraus kann man jedoch keine allgemeine Interventionspflicht für Deutschland oder die europäischen Staaten ableiten.

Noch einmal gefragt: Wovon genau wird abhängen, ob Deutschland sich an militärischen Kampfeinsätzen in Zukunft beteiligt?

Von unserer politischen Entscheidung.

Das können Sie nicht konkreter machen?

Ich mache es dann konkret, wenn sich die Frage konkret stellt. In bezug auf das Kosovo habe ich es gerade getan. Aber die Entwicklung dort taugt für mich nicht zu einem verallgemeinerbaren Prinzip.

Nach dem Kosovo-Krieg stellt sich nicht nur die Frage, wann der Westen zukünftig militärisch eingreift, sondern auch wer: die Nato? Die UNO? Stand-by-forces des UN-Generalsekretärs?

Das ist eine typisch linke Debatte in Deutschland. Sie geht an den Realitäten völlig vorbei.

Warum?

Wer ist denn die Nato? Allen voran Amerika, und nur Amerika war in der Lage, diesen militärischen Kosovo-Einsatz mit Unterstützung der europäischen Bündnispartner zu bewältigen. Stand-by-forces des UN-Generalsekretärs, so sinnvoll sie sein mögen, hätten einen solchen Einsatz niemals leisten können.

Wer garantiert, daß sich die Nato zu einem solchen Kampfeinsatz nicht noch einmal selbst ermächtigt, ohne Mandat der Vereinten Nationen?

Die Nato hat sich nicht selbst ermächtigt.

Aber es gab kein Mandat der UNO. Und als Volker Rühe im Herbst vorigen Jahres ein solches Mandat für überflüssig hielt, da haben Sie selbst ihm heftig widersprochen.

Ja, weil ich die Vereinten Nationen mit ihrem Gewaltmonopol für unverzichtbar halte. Aber was hätten wir im März tun sollen, als Miloševic das Kosovo ethnisch säuberte? Hätten wir die Hände in den Schoß legen und den Kosovo-Albanern sagen sollen: Tut uns leid, wir würden euch ja gern helfen, aber wir kriegen keinen Sicherheitsratsbeschluß? In was für einer Welt leben wir eigentlich?

Der Nato-Einsatz im Kosovo mag moralisch gerechtfertigt gewesen sein, aber ihm liegt ein klarer Bruch des Völkerrechts zugrunde.

Mit allem Nachdruck: Nein! Es war eine Notsituation, die zu einer Notlösung führte; ich betone bewußt: Notlösung. All diejenigen, die behaupteten, diese Entscheidung würde die Vereinten Nationen schwächen und am Ende sogar überflüssig machen, haben nicht recht behalten. Das Gegenteil ist der Fall: Heute sind die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat stärker denn je. Sie haben bei der Beendigung des Kosovo-Krieges eine herausragende Rolle gespielt.

Der grüne Außenminister erklärt: Es gibt keine grüne Außenpolitik. Was dann?

Ich bin nicht der grüne Außenminister, das ist ein großer Irrtum. Die Grünen stellen den deutschen Außenminister, und der macht deutsche Außenpolitik. Der Parteipolitiker Joschka Fischer, der mit Leib und Seele Grüner ist, macht grüne Außenpolitik. Ich bin hier für Präzision.

Gibt es überhaupt noch eine spezifisch grüne Politik?

Selbstverständlich, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir haben sogar eine grüne Außenpolitik.

Der Außenminister, der deutsche Außenpolitik macht, ist inzwischen der beliebteste deutsche Politiker. Sie erscheinen immer besser, größer, schöner – die Grünen hingegen immer blasser, kleiner und häßlicher. Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang?

Nein.

Und wie erklären Sie sich dann, daß Ihre Partei so schwach dasteht?

Ich habe dafür sehr präzise Erklärungen, möchte mich dazu aber im Moment nicht öffentlich äußern.

Warum nicht?

Weil wir die negative Selbstdarstellung in den letzten Wochen ausgiebig betrieben haben. Meiner Meinung nach war das falsch. Ich habe versucht, mich daran nicht zu beteiligen, und dabei möchte ich bleiben.

Der Kanzler hat für die Grünen mehr Fischer und weniger Trittin gefordert. Was ist, wenn das nicht mehr hilft?

Das müssen Sie selbst beantworten. Ich habe diese Forderung nie für richtig gehalten.

Interview: Jens König/ Patrik Schwarz