Zeitreise zum Millennium-Bug

Noch 164 Tage bis zum Jahrtausendwechsel, einschließlich Jahr-2000-GAU. Doch die Bewag, Berlins Stromversorger, sieht dem Ganzen gelassen entgegen – mit Simulationen  ■   Von Richard Rother

„Wenn Sie das Licht der Welt erblicken, kommt es von uns.“ Damit sich der sehr originelle Werbeslogan der Bewag auch den vielen Millennium-Gören zugute kommt, dafür werden bei dem Berliner Stromkonzern derzeit sämtliche Hirne und Hebel in Bewegung gesetzt. Schließlich droht zur Jahrhundertwende der große Crash. Der Millennium-Bug – der ist selbst im provinziellen Berlin zu einem festen Begriff geworden, bei der Bewag spätestens, seit der US-Konzern Southern Company mit 26 Prozent eingestiegen ist.

Im hübschen Berliner Westen, im Spandauer Kraftwerk Oberhavel, fand gestern die erste öffentliche Generalprobe statt. Man habe das Jahr-2000-Problem – wenn die gängige Software auf das Jahr 1900 umschalten möchte – fest im Griff, versicherte Stefan Keese, mittlerweile Centerleiter Informationsverarbeitung, den staunenden Pressevertretern. Schließlich seien fünf von zwölf Berliner Bewag-Kraftwerken bereits „ertüchtigt und getestet“, so Keese. Was soll dann eigentlich noch schiefgehen an der schönen Havel, auf der Kohleschiffe und Freizeitsegler schaukeln?

Also wurde die versammelte Gesellschaft flugs auf die entscheidende Zeitreise mitgenommen. 164 Tage vor dem großen Datum sollte schon mal simuliert werden, daß alles klappen wird. Helm auf zur Präsentation, durch die heiße und laut dröhnende Turbinenhalle in die „Warte“, in der klimatisierten Leitzentrale kurz durchatmen und gespannt auf den großen Bildschirm starren: Fri, Dec 31, 23:59:51 1999. Der Countdown läuft.

Die Sekunden verrinnen, und die Spannung steigt wie die Wassertemperatur in den Turbinen – über den Siedepunkt. Die Lichterchen auf den Armaturen, die an die robuste DDR-Mikroelektronik errinnern, blinken unbeteiligt vor sich hin. „Sie werden sehen, daß Sie nichts sehen“, erläutert Ralf Redetzky von der Kraftwerksgruppe West stolz. Fünf, vier, drei, zwei, eins – natürlich passiert null. Das ist der Sinn der Übung: „Die Regelschwankungen sind völlig normal“, so Redetzky.

Die Menge atmet auf. Nichts ist in die Luft geflogen, keine Turbine geplatzt, und auf dem Bildschirm, auf dem ein Schornstein permanent im Bild ist, sieht man nur schwebende Schwalben – hoch am Himmel. Was denn hätte passieren können, wird Keese gefragt, dessen Abteilung immerhin bei vier Prozent aller Personalcomputer Jahr-2000-Probleme festgestellt hatte. Nun, das sei relativ, so Keese. „Ein Super-GAU ist zwar nicht zu erwarten, aber wenn eine Rauchgasentschwefelungsanlage ausfiele, wäre das schon gravierend.“ Und obwohl der TÜV ein sogenanntes Sicherheitszertifikat ausgestellt habe, sei auch eine solcheSimulation nicht hundertprozentig aussagekräftig. Keese: „Ein Restrisiko kann bleiben.“

Dennoch sieht sich die Bewag gut vorbereitet auf das große Silvesterfest – gefeiert wird allerdings auf Arbeit. Der Stromkonzern hat bereits eine Urlaubssperre verhängt. Und ein erläutertes Notfallkonzept ausgearbeitet. Schließlich sei nicht auszuschließen, so Keese, daß in der Hauptstadt alles andere zusammenbreche: der Verkehr, die Telekommunikation. Damit hat die Bewag, 40 Jahre Inselerfahrung hinter sich, aber kein Problem. Sollte irgend etwas passieren, stellen wir auf „autarke Versorgung“ um, sagt Keese. Es würden Brennstoffvorräte angelegt und ein eigenes Telefonsystem installiert. Von den Wessis jedenfalls will man nicht abhängig sein; deswegen verweigert die Bewag auch derzeit die Energiedurchleitung für die westdeutsche Konkurrenz. Begründung: ein zu dünnes Kabel.

Auch ein anderes Image-Problem beschäftigte die Bewag auf ihrer Millennium-Präsentation. Schließlich will der jüngst privatisierte Konzern bis zu 3.800 Stellen streichen, das ist jeder zweite Arbeitsplatz, und einige Kraftwerke dichtmachen. Welche, das wollte Unternehmenssprecher Reinhard Heitzmann nicht verraten. Das werde im nächsten Jahr entschieden.

Und auf die Nachfrage, ob er denn die um ihre Jobs fürchtenden Beschäftigten für genügend motiviert hält, mit dem Jahr-2000-Problem umzugehen, antworte Heitzmann mit preußischem Charme: „Das ist keine Frage der Motivation, die Mitarbeiter haben ihre Aufgabe zu erfüllen.“

Die Menge atmet auf. Nichts ist in die Luft geflogen, keine Turbine geplatzt, und auf dem Schirm sieht man nur schwebende Schwalben – hoch am Himmel.