Realismus auf Ebene vier

■  Vom Kampfbegriff der Lebenswelt zur Selbstironie im Kunstbetrieb: Seit 25 Jahren zeigt das RealismusStudio der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin Bilder vom Alltag

Die Barrieren sind hoch. Die Empfangstresen der neuen Galerien in Chelsea lassen wenig mehr als die Haarspitzen der Galeristen sehen. Zumindest in den Fotografien von Lisa Endriß und Petra Gerschner, die die Eingänge bekannter New Yorker Kunsthändler als sachlich-kühle Bollwerke in den Blick gerückt haben. Ihre Fotos sind Teil der Kunstbetriebsausstellung „the search for the spirit“, mit der das RealismusStudio der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin sein 25jähriges Bestehen feiert.

Die Eintrittsschwelle so niedrig wie möglich zu halten: Das gehörte grundsätzlich zum Programm des 1969 gegründeten Vereins NGBK. Die Themen der ersten Ausstellungen – John Heartfield, Funktionen der Bildenden Kunst in unserer Gesellschaft, Constantin Meunier, Kunst der Bürgerlichen Revolution 1830-–1848/49 – künden unmißverständlich vom Appell an die politische Verantwortung des Künstlers aus einer historisch gewachsenen Kontinuität. Die Hoffnung, mit der Kunst nicht nur das Bewußtsein zu ändern, sondern in die Realität eingreifen zu können, schickte den Blick zurück in die revolutionären Epochen der Geschichte und über die Grenzen Deutschlands hinaus. Plakatausstellungen aus Kuba, Portugal und Chile lesen sich rückblickend wie eine Chronik der politischen Hoffnungen.

Die Arbeitsgruppe, Errungenschaft studentischer Diskussionskultur, sollte in der NGBK basisdemokratische Strukturen gewährleisten. 1974 wurde das an der Geschichte orientierte Programm der NGBK um das RealismusStudio erweitert: anfangs eine Bühne für die eigenen Mitglieder und Berliner Künstler der Gegenwart, die sich als Kritische Realisten in der Tradition von Heartfield, Dix und Grosz verstanden. Noch war der Realismusbegriff an eine realistische Darstellung gebunden.

In den siebziger Jahren markieren Themen wie „Gastarbeiter“ und ein Malwettbewerb zur Strafgesetzgebung das Bemühen um gesellschaftliche Relevanz. Als Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzung erscheint eine Plakatausstellung von Ernst Volland 1981, die auf dem Bauzaun um die Gedächtniskirche für Aufsehen sorgte: Sie bezog sich auf die nationalsozialistische Vergangenheit politischer Repräsentanten der BRD und wurde von der Polizei abgerissen.

Bis dahin folgte das RealismusStudio dem Anspruch des Allgemeinverständlichen. Erst als der Kritische Realismus, der im Westen schon lange als Berliner Sondermarke galt, zunehmend von einer neoexpressiven und mehr der subjektiven Befindlichkeit nachspürenden Malerei abgelöst wurde, verlagerte auch das Studio sein Augenmerk weg von einer allzu augenscheinlichen, populären Ästhetik. Statt dessen schaute sich Anfang der achtziger Jahre die AG in Westdeutschland um und lud an Fluxus und Konzeptkunst geschulte Künstler aus dem Rheinland als Korrektur zu der im eigenen Saft schmorenden Berliner Szene ein. Mit Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Astrid Klein, Charly Banana, Felix Droese, Hans Haacke und Georg Herold löste sich der Realismusbegriff vom Stil und verschob sich auf die kritische Haltung der Künstler. Die Frage nach der Erfahrbarkeit von Wirklichkeit hatte sich vor ihre Darstellung geschoben, und die bewußte Reflexion der die Realität vermittelnden Medien zog den Bildern einen doppelten Boden ein.

Dieses Nachdenken über die Bedingtheiten der visuellen Information brachte später Ausstellungen über Kunst aus dem Computer und den veränderten Raum des Wirklichen ins Programm. Mit der Reihe „Erzeugte Realitäten I–III“ (1994/95; Jeff Wall, Louis Bec, Orlan, Stelarc, Camera Silens) kamen computergenerierte Historienbilder und ein Modellbegriff ins Spiel, der von der Austauschbarkeit zwischen Fiktion und Realität ausging. Von Wirklichkeit war auf einmal im Plural die Rede, ein Sakrileg für die Hardcore-Realisten alter Schule, die das RealismusStudio inzwischen aus Ost und West mißtrauisch beäugten.

Der Öffnung gegenüber den Medien stand die Konzentration auf den Körper gegenüber. Wenn schon die Bilder keine Garanten des Wirklichen mehr waren, dann doch vielleicht die körperliche Erfahrung? Mit Bildern von Salomé begann 1979 die Thematisierung des Körpers und der Sexualität als Feld der Emanzipation. Zumindest dort schienen Authentizität und Wahrhaftigkeit möglich.

Diese Euphorie, sich in der erotischen Erfahrung der Wirklichkeit versichern zu können, brach mit Aids zusammen. Als ob auch der Körper zuletzt von seinen öffentlichen Bildern und seiner medialen Präsenz besiegt worden sei, arbeiteten sich die Künstler nun durch Schichten von Klischees, Selbst- und Fremdentwürfen. Der aufklärerische Gestus hatte sich umgedreht vom Argumentieren mit populären Bildern in eine Kritik ihrer performativen Macht.

Ende 1988 griff das RealismusStudio mit „Vollbild Aids“ das Thema zum erstenmal auf. Mitglieder der AG waren damals die Kunsthistorikerin Barbara Straka, die sich schon in den achtziger Jahren im Studio engagiert hatte, Christiane Zieseke und Leonie Baumann, die sich in der Geschäftsführung der NGBK ablösten, sowie Kurt Jotter und Frank Wagner, bis heute aktiv in der AG.

„Vollbild Aids“ (1988), „Aids-Projekte“ und „Sie nennen es Liebe“ (1993) banden die Kunst wieder eng an den Alltag und stellten viele Strategien der öffentlichen Intervention vor. Kunst verbündete sich mit Information über konkrete Hilfsangebote und politische Forderungen. „Damals hat das RealismusStudio den Aids-Aktivismus von Act-Up nach Berlin gebracht“, erzählt Frank Wagner. Mit Group Material und Gran Fury, die mit einer großen Plakataktion in die Berliner U-Bahnhöfe zogen, kehrte die Kunst in den Straßenraum zurück.

Doch der Körper ist als Thema des RealismusStudios nicht unter dem Bann von Aids erstarrt. Im März dieses Jahres war das schottische Künstlerpaar Smith/Stewart eingeladen, die sich in ihren Videobildern mit der Konditionierung der Wahrnehmung und des Denkens durch den Körper beschäftigen. Sein Bild aber wird immer nach dem Spiegel des Gegenübers geformt.

Mitglieder der Realismus-AG sind heute die beiden Kunsthistorikerinnen Hiltrud Ebert und Ingrid Wagner-Kantuser, die zuvor lange die Künstlerinnen-Förderung im Berliner Senat betreut haben. Letztes Jahr stellten sie „Die starke Geste“ der beiden Malerinnen Regula Zink und Friederike Feldmann und der Bildhauerin Felicitas Franck aus Berlin vor, in deren Sprache eine saftige Gegenständlichkeit zurückgekehrt ist. Aus der Lust an der Handwerklichkeit begehren sie gegen ein Verschwinden des bezeichnenden Bildes in der Kontextualisierung auf. Doch ihre realistisch anmutenden Formen gelten nicht einer unmittelbaren Wirklichkeit, sondern dem Versuch, den tradierten Bilderkanon neu zu besetzen.

Natürlich hat es das RealismusStudio nicht ohne Krisen so lange durchgehalten. Zuletzt stand die Beibehaltung des „Realismus“ im Titel nach dem Fall der Mauer zur Debatte. Aber gerade weil das RealismusStudio den Begriff nicht historisch fixieren, sondern ständig erweitern will, hält man am Titel fest.

„Dieser Raum ist angefüllt mit komplexen Fragen wie: was will der Betrachter vom Kunstwerk oder vom Ding, was will der Künstler vom Betrachter oder vom Kunstwerk oder vom Ding, [...] was will die Gesellschaft von beiden.“ Diese Fragen schießt „Björn“, eine lebende Skulptur von Simone Westerwinter, auf den Besucher ab. Die Begegnung mit dem leibhaftigen Kunstkommentator gehört zu den sechs Beiträgen über die Spielregeln des Kunstbetriebs und die Klischees der Künstlerbiographie, mit denen das RealismusStudio seine eigene Rolle nach 78 Ausstellungen weniger feiert als vielmehr gelassen dem Kontext der Gegenwart gewachsen sieht. In ihren Videos erzählt die Schwedin Annika Ström von beinahe mystisch anmutenden Begegnungen mit vielversprechenden jungen Künstlern, die dann irgendwann von der Bildfläche verschwanden. Solche Legendenbildung hat das RealismusStudio nicht zu befürchten. Wer hier auftauchte, von dem war bald meist mehr zu hören.

Katrin Bettina Müller

„the search for the spirit“, bis 8. 8. in der NGBK, Berlin