Die Graue Eminenz

Zwischen 1934 und 1945 schrieb Otto Fenichel 119 geheime Rundbriefe. Das 2.137 Seiten starke Konvolut ist gewaltiges Zeitdokument und Material aus der Geschichte der Psychoanalyse  ■   Von Winand Herzog

Als Wilhelm Reich mit seiner damaligen Frau Annie 1930 von Wien nach Berlin geht, trifft er dort wieder auf seinen alten Freund Otto Fenichel, der ihn 1919 mit den Lehren Sigmund Freuds vertraut machte. Fenichel (1897 – 1946) gehörte zwar bereits 1915 zu dem Dutzend Studenten, die sich für Freuds „Einführung in die Psychoanalyse“ eingeschrieben hatten, er erreichte allerdings nie eine maßgebliche Publizität – auch nicht Ende der sechziger Jahre, als die Taschenbuchauflagen der Werke Freuds die Millionengrenze überschritten und die Schriften von Fenichels psychoanalytischen Mitstreitern aus der sozialistischen Jugendbewegung, Reich oder Siegfried Bernfeld, massenhaft im Raubdruck verlegt wurden. Fenichels Name bleibt nur Eingeweihten bekannt oder taucht in den Haßtiraden Reichs auf, der ihn – zu Unrecht – für seinen Ausschluß aus der psychoanalytischen Bewegung verantwortlich machte. Fenichel trat, obwohl er sich möglicherweise als Kommunist verstand, nicht politisch hervor, und er war auch kein originärer Theoretiker der Psychoanalyse. Seine Stärken liegen auf anderen Gebieten.

Fenichel, bereits seit 1921 in Berlin, organisierte dort ab 1924 das sogenannte Kinderseminar, in dem vor allem junge linke Psychoanalytiker gemeinsam diskutieren konnten. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei mehr und mehr auf einer Verbindung der Psychoanalyse mit einer marxistisch orientierten Soziologie. Dieses Diskussionsforum, an dem neben Reich und Bernfeld auch Erich Fromm und Edith Jacobson teilnehmen, wird 1933 durch den Faschismus zerstört, und die Mitglieder des Kreises, soweit sie nicht noch im Deutschen Reich bleiben, werden in die verschiedenen Exilländer verstreut.

Deshalb setzt sich Otto Fenichel im März 1934 hin und verfaßt seinen ersten Rundbrief, dem bis Juli 1945 noch 118 weitere folgen werden. Fenichel war ein unvorstellbar produktiver und dabei genauer Rezensent (zwischen 1924 und 1941 schrieb er allein für die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 360 Besprechungen), so daß mehr oder minder ausführliche Lektürehinweise einen ständigen breiten Raum in diesen Rundbriefen einnehmen. Vor allem aber stellen die Briefe für Fenichel ein „bewegungspolitisches“ Instrument dar. In den elf Jahren der Existenz dieser geheimen Korrespondenz-Organisation sorgt er sich beständig um die Orthodoxie in der psychoanalytischen Bewegung. So kämpft er zunächst gegen die „Melaniesier“ in England, die den unheilvollen Einflüssen Melanie Kleins unterliegen. Dann, da durch den Anschluß Österreichs und die damit verbundene Emigration zahlreicher Analytiker, auch die Freuds, sich in England die Kräfte zu verschieben scheinen, beschäftigt Fenichel sich zunehmend ausführlicher mit den Entwicklungen der Psychoanalyse in den USA, zumal er dort, nach den Stationen Norwegen und Prag, in Los Angeles Asyl findet.

Fenichel hält mit den geheimen Rundbriefen eine einzigartige „scientific community“ zusammen – oder bildet sie erst heraus. Darin ist seine eigentliche Bedeutung zu sehen. Es gibt wohl keinen anderen Analytiker, der in ähnlich unspektakulärer Weise soviel für die Verteidigung von Freuds wissenschaftlichem Erbe getan hat.

„Otto geht nicht auf Demonstrationen“, hatte Reich sich schon in Berlin beklagt, und so verwundert es nicht, daß Fenichel die soziologisch orientierten Analytiker um jeden Preis vor dem Ausschluß aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung bewahren will. Politisch nicht für eine Volksfront zu haben, sucht er allerdings im Kampf gegen die wissenschaftlichen Hauptfeinde breite Bündnisse zu schmieden. Hierüber kommt es letztlich auch zum Zerwürfnis mit Reich, der dennoch ein geheimer trigonometrischer Punkt in diesen Rundbriefen bleibt. Nach Sigmund Freuds Name wird der Reichs am meisten genannt, wie dem vorzüglichen Register der Ausgabe, die auch einen ausgezeichneten Anmerkungsapparat besitzt, zu entnehmen ist. (Die beigefügte CD-ROM hingegen enthält nicht mehr als die komplette Buchausgabe zur Volltextrecherche.)

Das „Büro zur Erledigung der Korrespondenz von Dr. Fenichel“, wie er es einmal ironisch bezeichnet, hat in diesen elf Jahren eine ungeheure Leistung zu bewältigen, wobei er ein Fünftel der Rundbriefe (ab 1942) vollständig in Englisch verfaßt. Sie bleiben, im Gegensatz zu dem Ausspruch „Jesinnung, det macht uns keener nach“, von den Herausgebern unübersetzt, sind aber ähnlich leicht zu verstehen.

Am 14. Juli 1945 stellt Fenichel resigniert die Rundbriefe ein. In all den Jahren hat es nur wenige eingesandte Beiträge anderer gegeben, niemand scheint die Schreiben wirklich zu vermissen, und Fenichel ist weit von einer korrekten Anwendung der Soziologie auf die Psychoanalyse entfernt, er sieht nunmehr die bloße Existenz der Freudschen Lehre bedroht. Trotzdem, vielleicht gerade deshalb geben diese mit einem Jahr Verspätung im Stroemfeld Verlag endlich zugänglich gemachten 119 Rundbriefe, auch für den interessierten Laien, anrührend Zeugnis von einer Wissenschaftlergruppe in der Emigration. Der Verlag hat sich auf dem Gebiet der psychoanalytischen Literatur bereits einige Verdienste erworben, erinnert sei nur an die umfangreiche Goethe-Biographie von K. R. Eissler oder die 1995 endlich ungekürzt erschienene Autobiographie Wilhelm Reichs, „Menschen im Staat“. Sicher werden die „Rundbriefe“ nicht auf ein so breites Interesse stoßen wie etwa die Tagebücher Klemperers, trotzdem sind sie spannend zu lesen wie ein postmoderner Roman.

Otto Fenichel: „119 Rundbriefe (1934 – 1945)“. Zwei Bände im Schuber mit CD-ROM. Hg. von Elke Mühlleitner und Johannes Reichmayr. Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main 1998, 2.137 Seiten, 398 DM