Algerien auf dem bitteren Weg zur inneren Aussöhnung

■ Die Hoffnung auf eine dauerhafte Beendigung des blutigen Bürgerkrieges ist groß. Aber noch finden die Opfer der Islamisten und die Opfer der staatlichen Gewalt nicht zueinander

Algier (taz) – Die Szenen gleichen sich. Sowohl die Menschen vor dem staatlichen Menschenrechtsobservatorium (ONDH) in Algier als auch die vor der Nationalen Volksversammlung (APN) halten Fotos ihrer Kinder oder Ehepartner hoch. Wütend verlangen sie Aufklärung über deren Schicksal. Damit hören die Parallelen aber auch schon auf. Tiefe Gräben trennen beide Gruppen. Unten vor dem Parlament sind die Angehörigen von Opfern der islamistischen Gewalt aufgezogen. Oben in der Stadt stehen die Verwandten der Verschwundenen, Opfer staatlicher Repression gegen mutmaßliche Islamisten. Beide Gruppen verstärkten in den letzten Tagen ihre Aktivitäten. Präsident Abdelaziz Bouteflika hat die Aussöhnung Algeriens nach sieben Jahren Krieg mit 120.000 Opfern zum Programm gemacht. Keiner will, daß seine Anliegen vergessen werden.

„Es war am 10. Oktober 1996 um halb vier morgens im Zentrum von Algier. 15 Vermummte stürmten unsere Wohnung und nahmen Mohamed mit“, erzählt eine Frau Mitte vierzig. Die Angehörigen fordern eine Wahrheitskommission. In einem ersten Schritt begnadigte Präsident Bouteflika 2.400 Gefangene, „die kein Blut an den Händen“ haben. In Algier war mindestens einer dabei, der als Verschwundener galt. Das läßt Hoffnung bei denen aufkommen, die seit Jahren verzweifelt ihre Angehörigen suchen.

„Es gibt andere Mütter, denen bleibt nur der Weg zum Friedhof“, sagt Djamil Benrabah. Der Sprecher des Komitees gegen das Vergessen und den Verrat (CNOT), ein Zusammenschluß verschiedener Gruppen von Angehörigen der Opfer des Terrorismus, zeigt nur wenig Verständnis für die Familien der Verschwundenen. Er demonstriert gegen das Gesetz zur Zivilen Eintracht, das eine Amnestie für diejenigen vorsieht, die freiwillig die Waffen niederlegen. Vergebens: Noch am selben Abend wird das Gesetz mit nur einer Gegenstimme angenommen.

„Meine Frau wurde 1994 getötet“, erzählt Benrabah verbittert. Als Richterin galt sie den radikalen Islamisten als Vertreterin der „ungläubigen Macht“. „Eine Aussöhnung ist erst möglich, wenn die Täter uns um Vergebung bitten“, sagt Benrabah und meint auch die Angehörigen der Verschwundenen.

Salim geht dies zu weit: „Aussöhnung? Mit wem? Mit unseren Henkern?“ Der 40jährige lebt in Benthala in der Mitidja, der fruchtbaren Ebene vor den Toren Algiers, die den Beinamen „Dreieck des Todes“ trägt. 252 Menschen wurden hier im September 1997 in einer einzigen Nacht Opfer eines der grausamsten Massaker des Konflikts. Unter den Verstümmelten war Salims 11jähriger Sohn. „Pinochet muß vor Gericht. Vielleicht sogar Miloševic. Nur hier in Algerien amnestieren wir die Mörder“, sagt er bitter. Die Bilder der begnadigten Gefangenen, wie sie, mit den Fingern zum Siegeszeichen geformt, aus den Gefängnissen kommen, rufen in Salim einmal mehr die Bilder jener Schrekkensnacht wach. „Natürlich bin auch ich für den Frieden, aber nicht auf unserem Rücken“, sagt er wütend. Die schwarze Rußflecken an den Hauswänden hier in Benthala und die zersprungen Scheiben zeugen noch immer vom Überfall.

„Der Konflikt hat alle Algerier in Mitleidenschaft gezogen, deshalb darf kein Unterschied zwischen den Opfern, egal von welcher Seite, gemacht werden. Nur so können wir einen dauerhaften Frieden erreichen“, ist sich dagegen Abdelkader Boukamkam sicher. Der ehemalige Uniprofessor gehört der Leitung der Islamischen Heilsfront (FIS) im Inland an. Seit Präsident Bouteflika mit dem bewaffneten Arm der FIS einen Gewaltverzicht ausgehandelt hat, traut sich Boukamkam wieder offen zu reden.

Seine Partei verlangt einen Nationalen Kongreß zur Aussöhnung. Alle dunklen Punkte müßten ohne Rücksicht aufgedeckt werden. Darunter fallen für Boukamkam die Frage nach den Verschwundenen, aber auch die nach den Urhebern der Massaker. „Bis heute wissen wir nicht, wer wirklich dahintersteckt“, erinnert er an die Zweifel, die auch internationale Menschenrechtsorganisationen angemeldet haben.

„Ein unterschiedliche Behandlung der Opfer würde einmal mehr zur Spaltung Algeriens beitragen und einen Teil des Volkes dazu zwingen, in Schmach und Schande zu leben“, gibt Boukamkam zu bedenken. Er selbst nahm am antikolonialen Befreiungskampf gegen Frankreich teil. In den Monaten nach der Unabhängigkeit am 5. Juli 1962 starben überall im Lande Kollaborateure des Kolonialsystems infolge unkontrollierter Racheakte. Harkis, Verräter, werden die Opfer bis heute abschätzig genannt. „Die erste Regierung Algeriens unter Präsident Ben Bella war in der Lage, dies zu stoppen“, weiß Boukamkam zu berichten. Er hofft, daß auch Präsident Bouteflika mit „entsprechend harten Gesetzen“ diejenigen schützen wird, die am Ende des Friedensprozesses aus den Bergen zurückkehren sollen. Reiner Wandler

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