Der Safari-Schwindel und andere Lügen

Ernest Hemingways afrikanische Spiele: Zwei Flugzeugabstürze und 700 Seiten Reportagemanuskript. Auf immer noch lange 450 Seiten komprimiert erscheint posthum „Die Wahrheit im Morgenlicht“. Fast auf den Tag genau zu seinem 100. Geburtstag  ■   Von Gerrit Bartels

Anfang des Jahres 1954 diagnostizierte Ernest Hemingway an sich ein neues Laster: das Lesen von Nekrologen auf die eigene Person. „Ein sonderbares Laster“, wie er nicht ohne Koketterie schrieb, „das einen um jedes Gleichgewicht, vielleicht sogar um den Verstand bringen kann.“ Grund für diese verfrühten Nachrufe: zwei kurz aufeinander folgende Flugzeugabstürze während einer Safari in Ostafrika, die Hemingway im Auftrag der amerikanischen Zeitschrift Look mit seiner vierten Ehefrau Mary vom August 1953 bis zum April 1954 unternahm. Hemingway erlitt Verbrennungen, Kopf- und Wirbelverletzungen, einen Leberriß und Nierenquetschungen – körperliche Verletzungen, von denen er sich bis zu seinem Selbstmord 1961 nicht mehr richtig erholen sollte.

Trotzdem schrieb er für Look noch während seines Krankenhausaufenthalts in Nairobi – da war er eisern und sehr wohl bei Verstand – eine längere Reportage über seine Erlebnisse in Afrika. Wieder daheim auf seinem Landsitz auf Kuba, begann er aus der Reportage ein Buch zu machen. Doch nachdem das Manuskript irgendwann auf über 700 Seiten angewachsen war, legte es Hemingway beiseite.

Auf gut die Hälfte gekürzt, mit der obligaten Beteuerung, wirklich auch kein Wort geändert oder hinzugefügt zu haben und ein „ausschließliches Werk Ernest Hemingways“ vorzulegen, hat nun Hemingways zweiter Sohn Patrick die Aufzeichnungen über diese afrikanische Safari fast auf den Tag genau zu Hemingways 100. Geburtstag unter dem Titel „Wahrheit im Morgenlicht“ veröffentlicht. Patrick Hemingway spricht in seinem Vorwort zwar von einem „fiktionalen Text“. Doch unschwer läßt sich herauslesen, daß Hemingway seinerzeit versucht hat, die Personen und die Ereignisse während der Safari der Realität entsprechend darzustellen, um damit Afrika und einmal mehr auch seiner eigenen Person auf den tiefen Psycho- und Erkenntnisgrund zu kommen. Denn der Versuch, „ein wirkliches wahres Buch“ zu schreiben und festzustellen, „ob die Eigenart eines Landes und die Eindrücke eines vierwöchigen Jagdunternehmens bei wahrheitsgetreuer Darstellung neben einem Werk der Phantasie bestehen können“, den hatte Hemingway schon zwanzig Jahre zuvor mit seinem ersten Afrikabuch „Die grünen Hügel Afrikas“ unternommen. Das Buch fiel damals bei Kritik und Publikum durch, was Hemingway nur schwer verkraftete: „Ich fühlte mich ungeheuer leer und nichtig, als ob ich nie wieder ficken, kämpfen oder schreiben könnte und praktisch schon tot wäre“, schrieb er in einem Brief an John Dos Passos im Februar 1936.

So unbekannt, wie der Rowohlt Verlag jetzt im Klappentext zu „Eine Wahrheit im Morgenlicht“ raunt, können die Gründe also nicht gewesen sein, die Hemingway dazu veranlaßten, es nicht zu einer Veröffentlichung freizugeben. Er wußte um die Gefahr eines schlechten Remakes von „Die grünen Hügel Afrikas“, und einen Gefallen hat man ihm mit der Veröffentlichung von „Eine Wahrheit im Morgenlicht“ auch nicht getan: Das Buch verhandelt auf 450 langen Seiten die Zeit, die Hemingway und seine Frau Mary bis zu den verhängnisvollen Flugzeugabstürzen verbringen. Der Ich-Erzähler, wahlweise angeredet mit Ernest, Papa oder Bwana, ist stellvertretender Wildhüter in einem Reservat südlich von Nairobi, er jagt Löwen, Elefanten und Leoparden, weil sie sich an dem Vieh der Einheimischen vergangen haben, sowie Gazellen, Impalas und Antilopen, weil sie Nahrung bringen. Und er betätigt sich auch schon mal als Arzt und Friedensrichter.

Das plätschert Seite für Seite so ziemlich lapidar vor sich hin, eine besondere Dramaturgie läßt sich höchstens erkennen in der Beschreibung der Jagd auf einen Löwen, den „Miss Mary“, so heißt hier Hemingways Frau Mary, bis Weihnachten geschossen haben möchte. Dazu kommt die von Miss Mary geduldete, irgendwie traurig und zum Teil lächerlich wirkende Liebesgeschichte des Ich-Erzählers mit der jungen Afrikanerin Debba, die das Leben in Afrika für einen Mann wie Ernest erst richtig schön und lebenswert macht und mit schwergewichtigen Sätzen wie diesem ihre höheren Weihen bekommt: „Was für ein Glück ich hatte, daß ich Miss Mary kannte und sie mir die große Ehre erwies, mit mir und Miss Debba, der Königin der Ngomas, verheiratet zu sein.“

Sätze wie diese und überhaupt die gesamte Debba-Geschichte, die in der Tat größtenteils fiktional ist und sich wie eine Alte-Männer-Phantasie liest, sind die schwächsten Teile des Buchs. Hemingways vielgerühmten Dialoge lesen sich wie schlechte Abziehbilder aus früheren Büchern. Die vielbeschworene „Wahrheit“, der er in ihnen auf der Spur war, indem er die Sprache „bis auf den Knochen freilegte“, scheint sich bei diesem Buch in der afrikanischen Mittagshitze verflüchtigt zu haben. Darüber hinaus beschreibt sich Hemingway als lebende Legende, die „in die Weltereignisse hineingezogen wurde und es bis zum bitteren Ende darin aushielt“, als Superstar des Jet-set, der es gern hört, wenn man in Afrika annahm, er sei mit Miss Marlene (Dietrich) verheiratet.

Die vielen Schwächen wiederum machen aber auch den Reiz von „Die Wahrheit im Morgenlicht“ aus. Lassen sie doch einmal mehr erkennen, wie schwer sich Hemingway in seinen letzten Jahren tat, unterscheiden zu können zwischen schlechter Literatur und tollem Leben, zwischen dem eigenen Schreiben und den eigenen Posen.

Hemingway verfing sich da mehr und mehr in den Heldensagen, die über ihn im Umlauf waren, und der nicht zuletzt von ihm selbst eifrig betriebenen medialen Inszenierung. Die zwei überlebten Flugzeugabstürze und der Genuß, den er zweifelsohne beim Lesen seiner Nachrufe empfand, ließen ihn da auch nicht unbedingt klarer sehen – auch wenn es für „Die Wahrheit im Morgenlicht“ gerade noch an Einsicht reichte.

Und diese zumindest schimmert auch in diesem Buch immer mal wieder durch, wenn er die Safaris einmal als den „größten Schwindel überhaupt“ bezeichnet. Wenn er über den Romanschriftsteller als Lügner räsonniert, der er nolens volens nun mal ist. Oder wenn die alten, unwideruflich verlorenen Zeiten erinnert werden, gegen die nur der Fatalismus der Gegenwart hilft: „Aber heute ging wieder ein Tag zu Ende, und morgen war ein neuer Tag, und noch ging niemand über mein Grab.“

Mitleid mit Hemingway aber – „Poor Hemingway“ schrieb die New York Times, „'True at the first light‘ (so der Originaltitel) never should have seen the light of the day“) – muß man aber nicht haben: Verschwand schon zu Lebzeiten sein Werk oft genug hinter der Person, so ist „Die Wahrheit im Morgenlicht“ für die Erbengesellschaft Hemingways nicht mehr und nicht weniger als ein weiterer Artikel in der Hemingwayschen Produktpalette, die mittlerweile von Möbeln über Füllfederhalter bis zu Kochbüchern reicht. Der Name hat sich selbständig gemacht, er ist ein amerikanisches Markenzeichen wie Nike oder Coca-Cola geworden. Hemingway selbst hat zu Lebzeiten das Seine dazu getan, die Marketingstrategen in den Buchverlagen von heute würden sich gierig auf jemand wie ihn stürzen. In „Die grünen Hügel Afrikas“ beschwor er programmatisch die „vierte und fünfte Dimension“, die man beim Prosaschreiben erreichen kann – in diese ist er nach seinem Tod locker vorgestoßen, allerdings anders als gedacht.

Ernest Hemingway: „Die Wahrheit im Morgenlicht. Eine afrikanische Safari“. Rowohlt Verlag, 1999, 460 Seiten, 45 DM