Müller gegen Anspruchsdenken

Mit der Forderung nach weniger Sozialleistungen verärgert der Wirtschaftsminister die Gewerkschaften. Wirtschaft und Opposition sind dagegen angetan  ■    Von Beate Willms

Berlin (taz) – Er weiß schon, wem er am meisten zumutet und wem nicht. Deswegen wählt er die direkte Ansprache, buhlt um „Zutrauen und Vertrauen“ bei der „lieben Leserin, dem lieben Leser“ und gibt sich alle Mühe, seine Gedanken ansprechend zu verkaufen: Das Überraschendste am bereits im Vorfeld stark umstrittenen Wirtschaftsbericht 99, den der parteilose Bundeswirtschaftsminister Werner Müller gestern in Bonn vorgestellt hat, sind die Adressaten und die Aufmachung: Der 58 Seiten starke Bericht kommt als farbige Broschüre daher, strotzt nur so von bunten Bildern, Zitaten bekannter Macher aus ebenso bekannten Konzernen und einem Haufen winziger Tabellen und Statistiken, die neben dem eigentlichen Text herlaufen, und richtet sich an die breite Öffentlichkeit. „Reformen brauchen Akzeptanz“, so Müller.

Die Inhalte dürften allerdings für viele weniger attraktiv sein. Und so warnt der Minister, „mit Bequemlichkeit“ gewinne „man keine Zukunft“, bevor er seine „Konzeption einer modernen Wirtschaftspolitik“ darstellt. Die ist recht einfach und orientiert sich an der desolaten Situation der Staatskassen und dem rigiden Sparkurs, den Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) den Ministerien verordnet hat. „Ein sparsamer Staat ist ein Wert an sich“, erklärt Müller.

Also müßten alle ihre Ansprüche an die Allgemeinheit reduzieren und mehr Eigeninitiative entwickeln. Das gelte für die Wirtschaft, die mit einem Abbau der Subventionen rechnen müsse, und selbstverständlich auch für „die Gesellschaft allgemein“, also für die Beschäftigten ebenso wie für die Bezieher von Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder von Renten. Staatliche Hilfe, so die Idee, solle sich „auf wirklich Bedürftige konzentrieren und Anreize für eigene Vorsorge schaffen“. Mehr sei nicht bezahlbar. Und wenn die Sozialversicherungssysteme, also hauptsächlich die Kranken- und Rentenkassen sowie die Arbeitslosenversicherung, jetzt nicht reformiert würden, werde das alles noch schlimmer. Konkrete Vorschläge, wie eine künftige private Eigenvorsorge denn aussehen könnte, macht Müller jedoch nicht.

Klarer sind seine Vorstellungen dafür in der Arbeitsmarktpolitik, die für ihn ein Problem der mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten für geringer Qualifzierte und offenbar auch eines mangelnden Beschäftigungswillens ist: Wenn man die Leute zu lebenslangem Lernen anhalte und „verstärkte Arbeitsanreize“ schaffe sowie Arbeitsplätze mitfinanziere, sei schon viel gewonnen. Eine direkte Verantwortung „für die Entwicklung der Beschäftigung und damit auch der Arbeitslosigkeit“ trügen allerdings auch die Tarifparteien mit ihrer Lohnpolitik: Lohnabschlüsse, so Müller, müßten sich künftig – wie bisher in der Regel auch – am Produktivitätsfortschritt orientieren. Allerdings „unter Beachtung der Unterschiede nach Qualifikationen und Regionen, aber auch unter Beachtung der jeweiligen Lage am Arbeitsmarkt“. Vor allem diesen letzten Punkt wiesen die Gewerkschaften gestern noch einmal vehement zurück. Diese Ansage sei „völlig deplaziert“, sagte die Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Ursula Konitzer. Müllers Bericht erschöpfe sich weitgehend in „Modernisierungsrhetorik“. IG-Metall-Chef Klaus Zwikkel kritisierte, Müller wälze die Verantwortung für die Beschäftigung von der Wirtschafts- und Geldpolitik auf die Gewerkschaften ab. Der Vorsitzende der IG Medien, Detlev Hensche, sprach von einem „Aufguß alter Rezepte aus dem Labor Dr. Kohl/Dr. Waigel“ und von einer wirtschafts- und sozialpolitischen Wende der Regierung – und sah sich damit plötzlich einer Meinung mit Vertretern der FDP. Deren wirtschaftspolitischer Sprecher Rainer Brüderle erklärte, Müllers Thesen stünden „im völligen Widerspruch zur Regierungspolitik“. Sein Parteikollege, Ex-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, sagte, er habe während seiner Amtszeit eine ähnliche Politik verfolgt und könne sich nicht vorstellen, daß sich dieser Kurs in der jetzigen Koalition durchsetze.

Das sehen zumindest die Grünen offenbar anders. Ihr haushaltspolitischer Sprecher Oswald Metzger erklärte, er stimme mit den in dem Bericht formulierten Zielen überein. Mit dem Haushaltsjahr 2000 sei bereits ein „Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik“ eingeleitet worden, der in genau diese Richtung gehe und den die Grünen mittrügen.