Über Treue und Scham    ■ Von Joachim Frisch

Nasenpopeln, Sockenriechen, Popelessen, all dies sind Dinge, die auch der angeblich schamlose postmoderne Mensch nur dann tut, wenn er sich unbeobachtet fühlt, und er würde sich wünschen, vor Scham im Erdreich zu versinken, sollte er gewahr werden, daß ihn doch jemand beobachtet hat. Warum haben wir uns sonst alle vor Lachen einen Muskelkater im Zwerchfell geholt, als wir dabei zuschauen durften, wie John Cleese in „Ein Fisch namens Wanda“ den Kopf in den Nacken und seine Herrensocken genüßlich über den Riechkolben legte und dabei so tat, als seien wir Kinozuschauer gar nicht da?

Es gibt sogar Dinge, für die wir uns selbst dann schämen, wenn wir uns vollkommen unbeobachtet wähnen. So geht es mir jedes Mal, wenn ich mutterseelenallein den „Delta Radio Treuetest“ mitanhören muß. Der geht so: Der Moderator Matthias bietet männlichen Hörern an, ihren potentiell untreuen Freundinnen auf den Busch zu klopfen, was die Treue zum Freund angeht. Nun ruft z. B. Stefan (22) bei Delta Radio an, und es entwickelt sich in etwa folgender Dialog: „Hallo Stefan, hier ist Matthias. Du hast also Zweifel an der Treue deiner Liebsten?“ –„Hallo Matthias. Hier ist Stefan. Ja, Yvonne ist in letzter Zeit so richtig partygeil. Jetzt will sie mit zwei anderen Mäusen in Urlaub.“ (Stefan klingt wie ein verunsicherter Jungbauer, der dem Veterinär über die eigenartigen Symptome seiner Zuchtsau berichtet.) „Würdest du bitte für mich den Delta-Treuetest machen?“ – „Aber sicher, Stefan.“

Dann fragt der Radiomann die Eckdaten der potentiell Untreuen (Größe, Alter, Augen- und Haarfarbe) und einen Ort, an dem die des Fremdgehens Verdächtige sich in letzter Zeit öffentlich zur Schau gestellt hat (etwa die Disco „For You“). Nun folgt der eigentliche Test. Matthias ruft Yvonne an, säuselt wie ein brünftiger Gamsbock brüh- bis feuchtwarm Galantes in die Muschel, sülzt, wie toll er ihre Augen fand, als er sie im „For You“ gesehen hat und daß er sie unbedingt wiedersehen muß. Yvonne fällt darauf herein, weil der doofe Stefan ihr solche Dinge nie sagt oder allenfalls im Suff und mit Mundgeruch hinlallt, und schon fällt Stefan den beiden Turteltäubchen ins Wort, Matthias outet sich als ekliger Schnüffler, Stefan stellt Yvonne ob ihrer Bereitschaft, sich mit fremden schleimigen Sülzheinis zu verabreden, zur Rede, und Yvonne stottert verstört. Und das alles geht über den Äther.

Nur einmal hat eine der potentiellen Untreue fast überführte Maus instinktiv richtig reagiert und ihren schamlosen und feigen Freund, der öffentlich hinter ihr herschnüffeln ließ, live vor laufenden Radiomikrofonen und stante pede unter derben Schimpfwörtern, von denen Arschloch und Wichser noch die salonfähigsten waren, zum Exfreund befördert.

Sicher fragen Sie, liebe Leser, sich, warum ich mir das antue, mich dermaßen für andere Leute schäme, daß mir in meinen eigenen vier Wänden der vor Scham paprikarot angelaufene Kopf zu implodieren droht, statt einfach den blöden Radioapparat auszuknipsen.

Es ist allein das Berufsethos des Journalisten, die hehre Pflicht, der Welt schonungslos die Wahrheit zu verkünden, gerade die schlimme.