: Die jungen Boxer aus Halle
Alexander Wust ist 13 und will ein großer Faustkämpfer werden. Aber die Zeiten haben sich auch in Halle geändert. Oder nicht? ■ Von Markus Völker und Andrée Kaiser/G.A.F.F. (Fotos)
Der Nasenrücken ist breiter als bei seinen Freunden in der Sportschule, die Fußball spielen oder 800 Meter laufen. Die Augen sind häufig geschwollen. Obwohl er erst 13 Jahre alt ist, trägt sein Gesicht schon Spuren der Kämpfe. Alexander Wust boxt. In Halle an der Saale. Kumpels haben ihn überredet. Da war er neun. Er ging mit und fand es „richtig geil“.
Seither bandagiert er die Hände und streift sich Handschuhe über. Im vergangenen Jahr wurde er deutscher Vizemeister seiner Altersklasse. Beim letzten Mal flog er im ersten Kampf raus. „Ich bin zu sehr draufgegangen“, sagt er. „Ich war einfach zu nervös.“
Hibbelig tänzelt der Kleine den Boxer-Step, als er diese Sätze spricht. Dann sagt er nicht mehr viel. Bloß noch ja oder nein. Reden ist nicht sein Ding. Auch in der Schule nicht. Zensurendurchschnitt: 3 bis 4. Er boxt eben lieber. In einem ehemaligen Pferdestall. Die baufällige Sportstätte des SV Halle steht auf dem Gelände eines Gestüts. 1950 zogen Boxer und Fünfkämpfer ein. Drinnen sind heute noch die Halterungen fürs Zaumzeug erkennbar.
Ein Dutzend Sandsäcke baumelt in der Halle wie Rinderhälften. An der Wand hängen Plakate. Daß sie ein bißchen vergilbt sind, braucht niemand zu wundern. Manche wurden schon in den Fünfzigern angepinnt. Aber die Botschaft steht: „Lerne aus Niederlagen – und du wirst siegen.“
Zu DDR-Zeiten hatte Amateurboxen einen hohen Stellenwert. In Halle wurde die beste Jugendarbeit gemacht. Immer war der Bezirk bei der Zentralen Kinder- und Jugendspartakiade unter den Besten. Nach der Wende kam der Einbruch. Das traditionelle Turnier um den Chemiepokal war eine der wichtigsten Veranstaltungen des Welt-Amateurboxens. 1991 konnte es nicht ausgetragen werden, danach sank die Teilnehmerzahl drastisch. Die Bedeutung auch.
Die Sportschule, vormals unter dem Namen „Friedrich Engels“ Nachwuchsschmiede, nahm nun auch Schüler auf, die in ihrer Freizeit anderes als Training im Sinn hatten. „Mittlerweile aber sind wir wieder der stärkste Landesverband in Deutschland“, sagt Manfred Jost. Er ist Präsident der Amateurboxer Sachsen-Anhalts. Man habe sich gesagt, was früher gut war, das könne heute nicht schlecht sein. In der 200.000-Einwohner-Stadt wird es mit alten Rezepten über die Zeit gebracht: mit Trainingsdrill, Sportinternat und dem Geist vergangener Tage.
Ab acht Uhr in der Früh wird trainiert. Medizinbälle werden an eine Stelle an der Wand geknallt, an der die Farbe vollends abgeblättert ist. Vorm Spiegel wird schattengeboxt.
Als erster erscheint Steffen Kretschmann zum Training. Er ist 19 und im Mai deutscher Seniorenmeister im Schwergewicht (bis 91 Kilo) geworden. Seine gleichaltrigen Kollegen Steven Küchler (67 Kilo) und Norman Schuster (60 Kilo) siegten auch. Die jüngeren Boxer gewannen noch mehr Goldmedaillen. Bei jeder deutschen Meisterschaft (Kinder, Jugend, Senioren) kam der technisch beste Boxer aus Halle. Die Mitteldeutsche Zeitung schrieb „Junge Wilde demontieren die Aushängeschilder“.
Alex Wust demontiert niemand. Er ist Papiergewichtler. Muß noch ein paar Dosen Spinat essen, bevor seine Oberarme das nötige Popeye-Format erreicht haben. So wie die von Kretschmann. Der ist sein Vorbild. Bevor in Reih und Glied angetreten wird, geht's auf die Waage. Ein Trainer ruft zu Wüst: „Hey, alte Schmunzelbacke, du siehst ja aus wie ein Hering.“ Der spacke Bursche lächelt.
Das tut er auch noch, als er einen Arschtritt vom Trainer einfängt. Man ist ja kein Sozialarbeiter. Sagen die Trainer. Und diskutieren kann man im Bundestag. Wust steckt das weg, er hat schließlich etwas vor: Einmal so fighten wie Dariusz Michalczewski. Der ist ein Weltmeister im Halbschwergewicht. Ganz sicher, er möchte Profi werden.
Davon sollte er seinem Verbandspräsidenten lieber nichts erzählen. Den macht das Wort Profi wütend. „Regeln und Gesetze müßte es geben“, sagt Manfred Jost und schaut richtig ärgerlich, „damit die nicht so einfach ins Profigeschäft kommen.“ Er sagt: „Wir machen die Arbeit, die sahnen ab.“ Früher habe es so etwas natürlich nicht gegeben. Profiboxen sei Betrug am Volk. So ähnlich hat das der Henry Maske auch gesagt. Früher.
Wenn er so vergleicht, muß Jost zu dem Schluß kommen, daß die Wende für den Boxsport in Halle nur Negatives gebracht hat. „Die Arbeit wird immer schwieriger.“ Die Eltern seien skeptisch geworden, die Wirtschaft sei immer weniger bereit, in den Sport zu investieren; und das System der Konzentrierung von Talenten in Sportschulen habe man auch torpediert. „Früher gab es halbjährige Untersuchungen beim Sportarzt“, sagt Jost, „heute reicht einmal im Jahr ein Tierarzt.“
Der Verbandspräsident blickt von seinem Büro aus auf die neue Leichtathletikhalle, die gleich neben der maladen Boxhalle steht. Renovierung ist kein Thema. Und warum die Boxer nicht in den wenig ausgelasteten Neubau wechseln, kann Jost nicht genau sagen. Vielleicht liegt es daran, daß Boxen in Halle in der Vergangenheit verfangen ist. Man werkelt lieber im Muff des Alten, als das Neue zu versuchen. „Warum sollten wir das auch tun“, fragt Jost, „solange wir erfolgreich sind?“
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