Im Ethno-Erlebnispark

Von den Erträgen seines Erfolgs hat Peter Gabriel sein Real-World-Label zum Mekka der Weltmusik ausgebaut: eine Zukunftswerkstatt für die Symbiose aus Multikulti und Multimedia. Eine Bilanz nach zehn Jahren  ■   Von Daniel Bax

Es begann mit einem Desaster. Als Peter Gabriel mit einigen Getreuen im Jahr 1982 das erste „World Of Music And Dance“- Großereignis plante, da bahnte sich der Flop schon im Vorfeld an. Als dann auch noch die zahlenden Gäste ausblieben, die im englischen Städtchen Shepton Mallet so bekannte Interpreten wie Don Cherry, XTC und Echo and The Bunnymen im Gefolge von Ketjak-Tänzern aus Bali, Meistertrommlern aus Burundi und pakistanischen Qawwali-Sängern sehen wollten, war das finanzielle Fiasko perfekt. In der Not mußten die Genesis-Kollegen ihrem einstigen Sänger Gabriel mit einem einmaligen Reunion-Konzert zur Seite springen. Diese Soli-Aktion dürfte wohl der bleibendste Beitrag sein, den Phil Collins und Co je zur Sicherung musikalischer Vielfalt geleistet haben. Denn die Konzerterlöse, die zur Schuldentilgung verwandt wurden, bereiteten den Weg für einen Neustart des WOMAD-Unternehmens, das bald zum kleinen Weltmusik-Imperium anwachsen sollte.

Im Rückblick wirken diese Anlaufschwierigkeiten wie die Geburtswehen einer zu früh forcierten Erfolgsidee. Als Peter Gabriel vor zwei Wochen zur Geburtstagsfeier des von ihm 1989 gegründeten Real-World-Labels die Weltpresse in sein Studioareal lud, da herrschte eitel Sonnenschein und viel gegenseitiges Schulterklopfen. Im zentralen Studioraum des Gabrielschen Anwesens im Dorf Box, unweit des gediegenen Kurorts Bath im Westen Englands gelegen, standen Gabriel und sein Team Rede und Antwort. Wie zwei Mönche ragten dabei Gabriel und der Produzent Simon Emmerson, das Mastermind des Afro Celt Sound Systems, mit ihren kahlgeschorenen Häuptern aus der Runde und ergänzten sich in ihrem fast schon buddhistischen Gleichmut, mit dem sie die Fragestunde über sich ergehen ließen. Wie Real World denn an seine Künstler komme, wollte jemand wissen. „Durch die Gelben Seiten“, scherzte Peter Gabriel. Seine Bilanz aus zehn Jahren Real World fiel knapp und positiv aus: Real World sei „die Erfüllung eines Traums“. Tatsächlich hat die Entwicklung des Kleinlabels die anfänglichen Erwartungen weit übertroffen.

Ursprünglich als logische Konsequenz aus dem WOMAD-Festival heraus geboren – nicht zuletzt, um den auswärtigen Musikern vor Ort Aufnahmemöglichkeiten und gegebenenfalls auch Plattenverträge anbieten zu können –, hat Real World in den zehn Jahren seines Bestehens maßgeblich mitdefiniert, was heute so als „Weltmusik“ gilt. Wenige andere Label können auf einen vergleichbaren Katalog klangvoller Namen blikken, vom verstorbenen Qawwali-Schwergewicht Nusrat Fateh Ali Khan bis zum kongolesischen Soukous-Crooner Papa Wemba, und selten wird so konsequent an grenzüberschreitenden Fusionen gearbeitet wie hier. Gerade in der englischen Musiklandschaft, wo die an fernen Klängen interessierten Instanzen lange einen puristischen Roots-Ansatz hegten, kam die Real-World-Philosophie des „Anything Goes“ einer mittleren Revolution gleich. Maßstäbe gesetzt hat man aber nicht nur in puncto Aufnahmequalität und künstlerischer Ambition, sondern auch im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild. Die Cover-Gestaltung, die Art-work, überhaupt der gesamte visuelle Auftritt zielt auf eine Corporate Identity, welche die Vereinigung von Handarbeit und High-Tech beschwört, von Multikulti und Multimedia, von Elektronik und Ethno-Look.

Mit den WOMAD-Veranstaltern steht Real World in geradezu symbiotischer Beziehung, sind doch die Musiker des Labels häufig zu Gast auf den Festivals, die als Wanderzirkus mit Workshop-Zugabe schon auf dem halben Globus Station gemacht haben. Und auf dem alljährlich im nahen Rivermead stattfindenden Stammfestival wiederum werden nicht selten potentielle Kandidaten für die Plattenfirma gecastet. Von solchen Synergieeffekten befördert, hat sich Real World zu einem kleinen Mekka der Weltmusik entwickelt. Ganz im Sinne der Erfinder, soll Real World doch auch mehr sein als bloß eine weitere Plattenfirma, vielmehr, so Gabriel, eine „Dating-Agentur für Musiker“. Notorisch in dieser Hinsicht sind die sogenannten Recording Weeks, die nach Abschluß des WOMAD-Festivals schon mehrere Male organisiert wurden und in deren Verlauf sich das Studio-Anwesen regelmäßig in eine temporäre Künstlerkommune verwandelt, wo chinesische Musiker auf afrikanische Kollegen treffen und Größen wie Van Morrison oder Brian Eno sich zur Jam-Session mit Musikern des Hauses einfinden. „Ein Ort, von dem die Utopisten des 19. Jahrhunderts wohl geträumt hätten“, lobte der Produzent Simon Emmerson auf dem Podium seinen liebsten Arbeitsplatz. Bösere Zungen haben Real World dagegen despektierlich eine „musikalische Gesundheitsfarm“ genannt, schließlich ist die Sommerakademie im Grünen, wo sich fern von den Zwängen des Musikbetriebs in der Beschaulichkeit einer englischen Country-Idylle entspannt arbeiten läßt, so ziemlich das Gegenteil vom Rock-'n'-Roll-Ideal.

Dafür ist das Anwesen aber ein idealer Platz für eine gepflegte Gartenparty. 200 Journalisten waren zur Audienz angereist, um einen kleinen Einblick in Peter Gabriels kleine Weltmusik-Werkstatt zu gewinnen. Weiße Ballons schmückten die von Gabriels Geld zum hypermodernen Studiokomplex ausgebaute, im vorvorigen Jahrhundert gebaute Mühle, und kleine Grüppchen knieten auf der grünen Wiese vor bonbonbunten iMac-Monitoren, auf denen man sich auf einem Musikprogramm mittels der Maustaste seinen eigenen Songs zurechtmischen konnte. Nach der Pressekonferenz gaben sich auf diversen Bühnen einige der Musiker des Hauses ein Stelldichein: die Sängerin Yungchen Lhamo sang traditionelle Lieder aus Tibet, der Gitarrist Sam Mills stellte sein neues Fusionsprojekt mit der westafrikanischen Band Tara vor, während im Studioraum Londoner DJs Asian Drum 'n' Bass auflegten. TV-Teams streunten über das Gelände auf der Suche nach Interviewpartnern, Musiker in exotischer Garderobe tummelten sich unter den Gästen, und italienische Journalisten mit Ray-Ban-Brillen belagerten den Sektstand, kurz: Global Village im Kleinformat.

Ein futuristischer Erlebnispark für multimediales Ethno-Hopping – an dieser Vision hat Peter Gabriel in den vergangenen Jahren beharrlich gearbeitet, viel Geld in die Gestaltung ausgefallener CD-ROM-Programme investiert und für sein Projekt eines postmodernen Disneylands für Erwachsene mit seinen Geschäftspartnern nach einem möglichen Standort von Australien bis Barcelona Verhandlungen geführt. So intensiv hat er sich diesen Nebenprojekten gewidmet, daß er seine anderen Ziele dabei zeitweise aus den Augen verlor. Die Nachfrage nach seinem nächsten Album, seit fast einem Jahr angekündigt und stets verschoben, verbat Gabriel sich, kritische Fragen zu Real World wurden nicht ganz so brüsk abgebügelt. Ob es im Widerstreit von Traditionstreue und Marktorientierung einen Kurswechsel in der Veröffentlichungspolitik gegeben habe, wurde etwa gefragt, und Label-Managerin Amanda Jones stellte klar: „Wir haben uns nie als ethnomusikologisch korrektes Plattenlabel verstanden.“ Ob sich in der postulierten Vielfalt nicht schon längst ein Gleichklang eingestellt habe und ob denn Ethno-Klänge in jedem zweiten Werbespots dem Anliegen nicht abträglich seien? „Man kann diese Musik in ein Museum stellen, aber dann stirbt sie. Es ist viel gesünder, wenn sie sich auf dem Markt behaupten muß“, gab Gabriel zur Antwort und setzte noch eins drauf: „Wir stellen uns hinter jeden Hype, der Leute dazu ermutigt, ihre Ohren zu öffnen.“

In den achtziger Jahren trug Peter Gabriel, durch den Erfolg seines Albums „So“ gerade in die Liga der Megastars aufgerückt, selbst seinen Teil zum medialen Weltmusik-Hype bei. Zusammen mit Paul Simon und David Byrne (der im gleichen Jahr wie Gabriel das New Yorker Weltmusik-Label „Luaka Bop“ gründete) beförderte er das Bewußtsein für eine Welt jenseits des angloamerikanischen Mainstreams, mußte sich dafür aber auch den Vorwurf gefallen lassen, Ethno-Exploitation zu betreiben – eine Kritik, die ins Leere ging. Zwar haftet seinem weltmusikalischen Mäzenatentum zweifellos etwas Paternalistisches an. Und natürlich kann man in Gabriels Engagement auch eine Art Ablaßhandel sehen, mit dem er sich in anderer Form dafür revanchiert, daß er sich für seine Sound-Collagen selbst so gerne bei anderen Musikkulturen bedient. Doch daß viele Plattenkäufer ihren Blick nie in andere Abteilungen schweifen lassen würden, wenn ihnen nicht ein alter Bekannter den Weg wiese, steht außer Frage. Und der skrupulöse Umgang mit Material, den Gabriel an den Tag legt, sucht seinesgleichen. Artig gibt er stets seine Quellen an, und zu seinem Soundtrack für den Scorsese-Film „Die letzte Versuchung Christi“ veröffentlichte er gleich ein zweites Album mit dem verwendeten Originalen. Als mustergültiger Gutmensch bietet Peter Gabriel wenig Angriffsfläche.

Das einzige, was man Peter Gabriel und seiner Real-World-Firma vorhalten kann, ist, daß sie das knitterfreie Bild einer allzu harmonischen Multikulti-Idylle simuliert und daß dieses Bild mit der Wirklichkeit nicht unbedingt viel zu tun hat. Insofern aber kann die Tendenz, sich von eher traditionell klingenden Musik-Importen wegzubewegen, hin zu modernen Fusionen von Musikern, die in Europa zu Hause sind, auch als ein Zeichen von zunehmendem Realismus bei Real World interpretiert werden. Mit den Londoner DJs des sogenannten Asian Underground gibt es erstmals eine lokale Szene vor Ort, die bei Real World Eingang gefunden hat. Nicht nur haben sich deren wichtigste Protagonisten bereits an einem Tribute-Album für den verstorbenen Nusrat Fateh Ali Khan beteiligt, das Soundsystem Joi und ihr DJ-Kollege State of Bengal zählen mittlerweile auch zum festen Real-World-Personal.

Für die Gruppe Joi allerdings endete das Real-World-Geburtstagsfest tragisch. Fast in voller Besetzung war das DJ-Projekt angetreten, mit Sängerin und Tänzerin, Bassisten und Tablaspieler. Einzig Haroon Shamsher, der ältere der beiden bengalischen Brüder, die den Joi-Kern bildeten, fehlte, krankheitsbedingt. Später wurde bekannt, daß er überraschend einen Tag danach starb – an einem Herzinfarkt, wie es heißt.