■ Nebensachen aus Washington
: Nur Besucher müßte man hier sein

Alarmel Vali wirbelt in schier schwindelerregenden Bewegungsfolgen über die Bühne. Daß sie dabei noch lächeln kann! Wenn sie ans Mikrofon tritt, um den nächsten Tanz anzusagen, klingt ihre Stimme ernst: Sie erklärt die schwierigen Rhythmen des bharata-natyam, des ältesten aller indischen Tänze. Ihre Begleitgruppe kombiniert drei-, fünf-, sieben- und elftaktige Rhythmen, und sie muß beim Tanzen wie ein Computer rechnen, in welchen Taktarten sie dazu tanzen kann, damit alles aufgeht.

Die Aufführung findet im Keller der Washingtoner FreeGallery of Art statt, eine jener zahlreichen Kunstsammlungen in dieser Stadt, die sich ostasiatischer Kunst widmet. Gekommen ist alles, was in – oder besser: um Washington irgendwie zur indischen Gemeinde gehört, Geschäftsleute, Diplomaten, Angestellte, Kleinunternehmer, Studenten, Hausfrauen, obwohl Washingtons Inder meist jenseits des Potomac, in Arlington wohnen.

Die Veranstaltung ist kostenlos, wie der Besuch fast aller Museen, für die Washington so berühmt ist – zur Zeit sind gerade eine große Porträtausstellung Dominique Ingres' und die Bilder der amerikanischen Impressionistin Mary Cassatt zu sehen.

Was es außer Museen in Washington noch zu sehen gibt, wollen meine Besucher wissen. Ob es sich denn lohnt, in Washington mehr als ein paar Tage zu bleiben? Ein paar Tage? Wochenlang kann man hier nichts anderes tun, als das Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsangebot wahrzunehmen und natürlich dem Hintergrundrauschen der Politik zu lauschen.

Ich kann ein Lied davon singen. Neulich zum Beispiel trat im National Health Institut Steven Pinker auf, der Hirnforscher, Psychologe und Biologe, dessen Buch über die Funktionsweise des Gehirns trotz seiner 600 Seiten zum Bestseller geworden ist. Vielleicht auch nur dehalb, weil der Mann aus Princeton sich mit dem Biologen Stephen Jay Gould aus Harvard angelegt hat. Letzterer war vor ein paar Tagen in der Smithsonian Institution zu hören, und irgendwann kommt dieses Jahr auch der Biologe Richard Dawkins, der die ganze Diskussion um Soziobiologie angezettelt hat. Das sind die Leckerbissen in der Tagesplanung, und zu diesen Veranstaltungen komme ich meist nicht. Meinen Gast würde ich um die Zeit beneiden, die er hätte, sich solchem intellektuellem Wetterleuchten auszusetzen.

Ich stehe morgens um 7, wenn das Tagesprogramm per E-Mail eingetroffen ist, ratlos vor der Frage, ob ich zu einem Frühstück in der US-Handelskammer eilen soll, wo ein illustres Podium von Fachleuten über sog. Brownfields redet und wie man aus verwahrlosten Innenstädten und verwaisten Industrieanlagen neue Stadtlandschaften mit Wohnwert und Standortgunst entwickeln kann. Flächenrecycling sagt man auf Deutsch dazu. Wäre das nicht ein Thema für unsere Leser im Ruhrgebiet oder in Bitterfeld?

Leider findet gleichzeitig im Capitol eine Konferenz über Suburbanisierung in Europa und den Vereinigten Staaten statt. Darüber, wie man das Wuchern der Städte verhindert (Al Gores Thema für den Wahlkampf 2000), könnten wir in den USA am Ende etwas von den Deutschen lernen. Ob das etwas für meine Leser ist? Oder doch vielleicht eher das Frühstück mit George Stephanopoulos, dem ehemaligen Clinton-Berater, den man ja nach dem Resultat der Ära Clinton fragen könnte, das manch einer schon jetzt zu addieren beginnt. Washington bietet ein verwirrendes Überangebot an Informationen und Meinungen – zu Markte getragen von einem Dutzend Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, mehreren Dutzend Think Tanks und Stiftungen, Hunderten von Lobbyisten und Interessengruppen und schließlich der Regierung bzw. den Vertretungen anderer Regierungen, daß man nicht zum arbeiten käme, würde man von diesem Angebot Gebrauch machen wollen. Besucher müßte man hier sein.

Peter Tautfest