Stasi-Manieren im Westen

Akten der Gauckbehörde belegen, daß sich die Staaten des Westens gegenseitig ausspähten. Bonn ließ den brisanten Fund in den USA verschwinden  ■   Aus Berlin Wolfgang Gast

Berlin (taz) – Die Sieger im Westen sollten wenigstens einmal staunen müssen. Monatelang vernichteten die Mitarbeiter des DDR-Auslandsgeheimdienstes HVA Unterlage um Unterlage – keiner der früheren Mitarbeiter im Westen sollte anhand der verbliebenen Papiere zu identifizieren sein.

Den zentralen Runden Tisch, der nach der Wende die Auflösung des Geheimdienstes überwachen sollte, hatten Mielkes Auslandsexperten überzeugt, daß im Fall einer Enttarnung das Leben der langjährigen Agenten akut gefährdet sei. So liefen dann die Reißwölfe heiß. Einige Akten bewahrten die HVA-Mitarbeiter jedoch vor der Vernichtung.

Als Mitte 1990 die Auflösung der HVA beendet war, hinterließ der Geheimdienst der ersten frei gewählten Volkskammer eine Art Handarchiv – detaillierte Unterlagen über Strukturen, Mitarbeiter und geheimste Planungen der Westgeheimdienste. Wenigsten zum eigenen Untergang sollten Freund und Feind (die Einheit stand vor der Tür) erfahren, wie effizient die Arbeit der HVA gewesen war.

Zu den Perlen unter der papiernen Hinterlassenschaft zählte eine sogenannte National Sigint Requirement List des amerikanischen Geheimdienstes „National Security Agency“ (NSA). Das 4.258 Seiten starke Top-secret-Dokument war eine Art Fünfjahresplan der Behörde mit 27 Milliarden-Dollar-Etat. Es listete auf, in welchen Ländern was mit welchen Mitteln abgehört werden sollte. Land für Land war aufgeführt, was technisch ging und was nicht.

Ganz nebenbei belegte die Liste, was allseits nur Vermutung war: Die westlichen Geheimdienste spähten sich auch gegenseitig fleißig aus. Für Bonn pikant: Etwa 30 Seiten der Unterlagen waren dem amerikanischen Interessen an deutscher Innen- oder Außenpolitik und an Nuklear- und militärischer Forschung made in Germany gewidmet.

Die brisanten Unterlagen sind verschwunden. Sie wurden, wie der Spiegel in seiner heutigen Ausgabe berichtet, von der Bundesregierung schon 1992 an die USA zusammen mit rund 9.000 weiteren Blatt zur NSA übergeben. Zuvor waren sie in den Archiven der Gauckbehörde. Das Bundesinnenministerium, so der Spiegel, rechtfertigt die Aktion damit, daß man „aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages mit den Vereinigten Staaten“ verpflichtet gewesen sei, „deren Verschlußsachen vor unbefugter Kenntnisnahme zu schützen“.

Der Vorgang ist nur schwer mit dem Stasiunterlagengesetz in Einklang zu bringen. Danach dürfen Originaldokumente deutscher und fremder Geheimdienste nur dann aus dem Archiv entnommen werden, „wenn das Wohl des Bundes oder eines Landes“ bedroht ist und die Zustimmung des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag vorliegt. Das Gremium ist aber nie informiert worden. Bei einem Teil der verschwundenen Akten handelt es sich um Auswertungsberichte, Übersetzungen und Expertisen der Stasi über das Treiben der NSA.

Das Verhalten der Gauckbehörde ist auch nicht sonderlich transparent. Sie bedauert, so das Magazin, daß der damalige „Bearbeiter es für sachdienlich gehalten hat, Materialien mit entsprechendem sachthematischem Bezug“ – also jedes die NSA-Umtriebe betreffende Blatt – „mit herauszugeben“. Kopien hat zuvor keiner gemacht.