Neintienneintinein!

■  MTV Theater Massaker: Michael Simon inszeniert in Weimar medienzeitalterlich – und scheitert an der Echtheit der Menschen

Ein intensiver Sound lädt die Atmosphäre im schwarzen, steil ansteigenden Zuschauerraum schon auf, als man noch die Treppen zu seinem Sitzplatz heraufklettert. Eine Popshow über das multimediale 20. Jahrhundert ist angekündigt, ein Musik-Theater-Stück ohne Schauspieler. Einzige Darsteller in Michael Simons Stück sind die Mitglieder der Berliner Band Madonna Hip Hop Massaker – in schwarzer Hose und T-Shirt, bloß mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen auf dem Bauch: M für Miss Megatrance, K für Kingo, R für Rob Zoom und P für Pia Lorca. Schauplatz ist das Innere eines großen schwarzen Klotzes mitten im Weimarer Ilm-Park, Goethes Gartenhaus noch in Sichtweite. Und während sich die Ränge des Kubus – so heißt der Klotz – langsam füllen, hat der Abend längst begonnen. Verschwommene Bilder flimmern rhythmisch über drei saalhohe Buchstaben, die das Wort NOW ergeben. Man ist schon mittendrin in der medialen Bilderflut, von der das Stück ja handeln soll.

Menschenmassen, Farben, Sportveranstaltungen, Comics und Gesichter – eine Komposition der Schweizer Videokünstlerin Ariane Andereggen aus Bilderfetzen und Tönen, die im Prinzip nicht anders funktioniert als Billy Joels Hit „We didn't start the fire“, dem Michael Simons Abend hier nicht nur den Titel verdankt. Der Joel-Hit reiht stichwortartig Jahreszahlen, Namen und Ereignisse aneinander, und vierzig Jahre rasen „assoziativ“ in dreieinhalb Minuten vorüber. Geschichtsschreibung im MTV-Format. Worte und Daten wirken als Signalreize, die das Bewußtsein sofort mit Bildern überschwemmen. „JFK / blown away / what else do I have to say.“

Weil Billy Joel bei den Medien dieses Jahrhunderts bleibt, also nie die perfekten, synthetisch mit Bedeutung aufgeladenen Räume von Videoclip und Popmusik verläßt, geht seine Rechnung auf. Michael Simon aber ist im Theater gelandet, und so beginnt das Unglück gleich, nachdem die Lichter im Zuschauerraum verloschen sind und man im Dunkeln bloß noch die Nebelmaschinen ächzen hört. Als das Licht wieder angeht, stehen echte Menschen auf der Bühne – ein Schock, von dem sich der Abend nicht mehr erholt.

Denn Simon glaubt, Billy Joels Kunstgriff, die Bilder nicht selbst, sondern in den Köpfen der Zuschauer zu erzeugen, ließe sich so einfach auf das Theater übertragen. Gleich zu Anfang singt Bandfrau Miss Megatrance ein Lied vom „virtual body“ und erzählt, wie sie schon vor ihrer Geburt im Mutterleib in die Ultraschallkamera gelächelt hat. Das korrespondiert dann wunderbar mit dem Auftritt von vier Warhol-Karikaturen dreißig Minuten später, die verkünden, daß sie bloß sterben wollen, wenn man sie dabei filmt: Medienkunde für Anfänger, ein Eindruck, den der launige Seminarton der Texte von Bettina Erasmy noch verstärkt. Eine gute Stunde lang werden nun Daten von Erfindungen und Geburtsdaten von Erfindern aneinandergereiht. Von Thomas Alva Edison bis Bill Gates – ein Name-dropping ohne Ende. Da entstehen keine Bilder im Kopf, sondern bloß das Gefühl, aus dem Lexikon vorgelesen zu bekommen. Videoprojektionen und Musiknummern sollen die Szenen immer wieder medial überhöhen, um schließlich doch im banal Anekdotischen („ich stehe gerade auf einer Baracke in Neufundland und repariere meine Antenne“) zu enden. Die Erfindung des Telefons wird illustriert, indem ein Mann einen Hörer über seinem Kopf wie ein Lasso schwingt und sich irgendwann damit erdrosselt. „Moment mal, sind da nicht die Funksignale der Titanic“, heißt es plötzlich, und zwei Signalgeber schwenken rhythmisch ihre Wimpel. Da entsteht nicht mal mehr das Bild von Leonardo DiCaprio vor dem inneren Auge, sondern höchstens das einer blöden Versicherungsreklame. Und als dann die Sängerin lasziv mit einer Federboa wedelt und in ihr Mikro haucht, sie sänge jetzt live aus dem großen Saal der Titanic, würde man am liebsten abschalten. Bloß geht das nicht, denn wir sind ja im Theater.

Dabei hätte das auch die Chance dieses Projekts sein können, denn hinter der verkrampften Ironie spürt man auch die Sehnsucht nach dem Authentischen und die hätte man ja nun im Theater satt: Echte Menschen spielen vor echten Menschen. Bloß müßte man sich eben mit der Tatsache auseinandersetzen, daß neben der Perfektion der Medien ein Mensch auf der Bühne vergleichsweise mickrig wirkt: besonders, wenn es sich nicht um Madonna, sondern um das Madonna Hip Hop Massaker handelt. Deren Bühnenpräsenz ist kein bißchen medial oder sonstwie aufgeladen, selbst wenn die Presseabteilung der Kulturstadt Europas GmbH sich in ihrer Presseerklärung redlich darum bemüht und die Band als „plakativ, wild und gefährlich“ bezeichnet.

Auf der Bühne steht dann aber doch bloß eine leidlich bekannte deutsche Popgruppe, die zwar singen, aber keine Texte sprechen kann und nicht mal annähernd so gut tanzen wie, let's say, Madonna. Und so hetzt Michael Simon der Perfektion der Medien hinterher, die er irgendwie ja kritisch beleuchten wollte. Als ich dann anderthalb Stunden später wieder unter den Bäumen des Ilm-Parks stehe und, im Programmheft von Utopien und Ideen lesend, auf die Frage stoße: Und wovon träumen wir heute, nineteennintynine? Da denke ich, daß die Teletubbies einer Antwort darauf sicher schon näher gekommen sind als Michael Simon, Bettina Erasmy und das Madonna Hip Hop Massaker. Esther Slevogt