■ Was geschah in Orahovac?

Am 5. August 1998 berichtet taz-Reporter Erich Rathfelder von Massengräbern in der Kosovo-Ortschaft Orahovac. Dort sollen mehrere hundert Opfer einer serbischen Offensive zwischen dem 18. und 21. Juli 1998 begraben sein. „In diesen Massengräbern sind, so sagen Augenzeugen, bisher 567 Menschen verscharrt worden“, heißt es in dem Beitrag. In einem Folgeartikel bezieht sich Rathfelder auf einen Zeugen, der eigenen Angaben zufolge beim Abtransport der Leichen geholfen hat. „Ich habe die Leichen selbst gezählt“, wird der Informant zitiert. Die Mehrzahl seien Kinder gewesen: „430, um genau zu sein.“

Die Berichte lösen heftige Reaktionen aus. Rathfelder wird von Belgrad zur persona non grata erklärt und ausgewiesen. Eine EU-Delegation recherchiert vor Ort, findet jedoch laut eigener Darstellung keinerlei Hinweise auf Massengräber in Orahovac.

Im Frühjahr 1999 legt das Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) einen Zwischenbericht über Menschenrechtsverletzungen in Orahovac vor. Der Bericht kommt zu dem Schluß, daß es während der Rückeroberung der Stadt im Juli 1998 durch serbische Kräfte zu schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen gekommen sei. Gestützt auf Befragungen von sieben Zeugen, nennt der Bericht die Zahl von 112 Albanern, die zwischen dem 17. und 18. Juli getötet worden sein sollen. Am 20. Juli habe der Abtransport der Toten begonnen. Diese Leichen, so zitiert der Bericht die Befragten, seien in drei Massengräbern vergraben worden, darunter auf einer Mülldeponie an der Straße Orahovac–Suva Reka.

Heute, ein Jahr danach, ist Erich Rathfelder wieder nach Orahovac gefahren. Der Zeuge von damals, der 567 Leichen gezählt haben wollte, hat nun einen Namen: Es handelt sich um Isen Sokolji, einen deutschen Staatsbürger, der sich zum fraglichen Zeitpunkt in Orahovac aufhielt. Was die genaue Zahl von Opfern angeht, ist Sokolji sich nicht mehr sicher. Der Chef der örtlichen Menschenrechtskommission, Dr. Mehmed Cena, berichtet, daß bisher der Tod von 150 Menschen dokumentiert sei.

In einem Kommentar zu den Gräbern von Orahovac schrieb der damalige Chefredakteur der taz, Michael Rediske, im August 1998: „Die Wahrheit kann nur eine Exhumierung ans Licht bringen.“ Dieser Satz gilt heute immer noch und das ohne Einschränkung. Wenngleich die Existenz von Massengräbern in Orahovac mittlerweile außer Zweifel stehe dürfte.