Kein England, keine Kneipen

Letztes Aufbäumen vor dem 21. Jahrhundert: Mit „Schlachten!“ inszeniert der flämische Regisseur Luk Perceval zwölf Stunden Shakespeare für Salzburg  ■   Von Christiane Kühl

Ein sonniger Sonntag in Salzburg enthält eine größere Dosis schläfriger Schönheit, als der gemeine Nordeuropäer in entspannte Lebensfreude umsetzen kann. Nie waren Glockenspiele klingender, Häuser pastellner und Kirchen prächtiger als an solch einem Tag in der Mozartstadt. Mit der Millenniumuhr am Alten Markt wird zwar dem 21. Jahrhundert tapfer ins Auge geblickt, doch beeindruckt wird hier, wie die Salzburg-Information festhält, durch Ursprünglichkeit und das Idyllische, Kleine, Feine. Trotzdem muß man sich gar nicht erinnern, daß man eigens für Luk Perceval angereist ist – zur lustig plätschernden Salzach hämmert sich das Wort „Krieg“ von ganz allein in die Stirn.

Mit „Schlachten!“ wurde folgerichtig am Tag nach der obligatorischen „Jedermann“-Aufführung auf dem Domplatz das Theaterprogramm der Festspiele 1999 eröffnet. Verantwortlich ist dafür in diesem Jahr Frank Baumbauer, der kein überraschendes, aber mit Christoph Marthaler, dem britischen Theatre de Complicite und den katalanischen La Fura de la Baus nichtsdestotrotz ein schönes Programm zusammengestellt hat. Vor allem aber hat sich der scheidende Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg einen lang gehegten Traum erfüllt: Er konnte den flämischen Regisseur Luk Perceval zu einer Inszenierung im deutschen Sprachraum bewegen.

In den Niederlanden und Belgien ist Perceval ein Großer, anderswo freilich eher ein Unbekannter. Das erklärt sich vor allem daraus, daß für den 42jährigen und seine 1984 gegründete Blauwe Maandag Compagnie Sprache ein so essentielles Moment von Theater ist, daß sich internationales Festivalhopping verbietet. Nun aber hat Perceval nicht nur Deutsch gelernt, sondern auch vier Jahre lang mit dem flämischen Autor und Übersetzer Tom Lanoye an einem Shakespeare-Projekt gearbeitet. Acht Königsdramen mit 40 Akten, 200 Szenen und 300 Figuren war das Material für ihre zwölfstündige Neuversion der Rosenkriege. Nach der Uraufführung von „Ten Oorlog“ 1997 in Gent ließ sich Perceval zu einer Übersetzung und Neuinszenierung mit Schauspielern des Deutschen Schauspielhauses überreden. Im Januar begann er mit den Proben in Hamburg, wo die nun in Salzburg erstaufgeführten „Schlachten!“ im Oktober die 100. Spielzeit einläuten werden.

Während die Uhr am Alten Markt 160 Tage und 15 Stunden zählte, stieg das willige „Schlachten!“-Publikum in Shuttle-Busse, die ein Aufkleber, ohne rot zu werden, als „millennium proof“ auswies. Auf der 20minütigen Fahrt zur Spielstätte war entsprechend Zeit zu sinnieren, was sonst noch fürs neue Jahrtausend gerüstet ist. Beim Theater ist man da nicht so sicher. Das Theater scheint vor allem selbst nicht so sicher. Die geballte Ladung momentaner Marathoninszenierungen – Shakespeare-Tag in Salzburg, Shakespeare-Nacht in Avignon, sieben Stunden Faust in Leipzig, für 30 Millionen auch neun in Hannover – wirken wie das letzte Aufbäumen der bürgerlichen Kunst vor ihrem Verschwinden. Trotzige Dekadenz, genährt aus der seit etwa 20 Jahren schleichenden Gewißheit, daß der Stadttheateranachronismus bald nicht mehr zu überspielen ist.

An Shakespeares Königsdramen interessierte Lanoye und Perceval weniger das mittelalterliche Britannien als die Anatomie der Macht an sich. Mit dem gültigen Hinweis, daß Kent für uns eine Zigarettenmarke und keine englische Graftschaft ist, kürzten sie die historischen Bezüge auf ein Minimum, aus Platzgründen strichen sie die „low life scenes“, und unter der Prämisse, daß Kino Gewalt sowieso besser darstelle, verlegten sie die Schlachten in den imaginären Raum. Man fragt sich natürlich, was von Shakespeare ohne England, Kneipen und Krieg übrigbleibt. Und weshalb am Ende unseres Jahrhunderts der Massenvernichtung und chirurgischen Eingriffe im Dienste der Menschlichkeit die Erbfolgemetzeleien der Häuser York und Lancaster überhaupt als adäquate Folie zur Untersuchung von Machtmechanismen dienen sollen.

Die ersten vier Teile der Inszenierung geben keine überzeugende Antwort. Auf der schlicht-eleganten Holzbühne von Katrin Brack liefern sich statische Männer im Rock heroische Wortgefechte, die durch tuntiges Gehampel von Roland Renner als „Richard Deuxième“ nicht dynamischer werden. Mit „Heinrich 4“ (Bernd Grawert) folgt ein law and order man, was seinen Sohn, Wolfgang Pregler als „Der fünfte Heinrich“, wiederum zur gehemmten Schwuchtel degenerieren läßt. Zwar hat die Kinetik Einzug gehalten und der strenge Reim sich zum freien Versmaß gewandelt, doch bis zum Auftritt von „Margaretha di Napoli“ (Nina Kunzendorf) erwecken die wiederholt heruntergelassenen Hosen den Eindruck, das größte Problem des Hofes seien verhinderte Arschficks gewesen.

Mit „Eddy the King“ (Andreas Grothgar) und „Dirty Rich Modderfocker der Dritte“ (groß: Thomas Thieme) gewinnt die Inszenierung zwar keine politische Dimension, doch frontale Dichte. Nach anfänglicher Deklamation ist das Spiel jetzt zum Dialog übergewechselt, der sich allerdings gleich kiloweise bei Hollywood, Popmusik und anderen Anglizismen bedient. Das ist nicht schöner, aber unsere Welt. Dirty Richs Schlußmonolog, den der skrupellos Mordende, „not in the mood für milde Gaben“, in einem fast unverständlichen Kauderwelsch ausstößt, transportiert tatsächlich, was von der Macht in der Kunst verhandelt werden sollte: ihre Faszination. Nicht die alten Inhalte werden das Theater ins 21. Jahrhundert retten, sondern seine potentiell unschlagbar flexible Form fürs Wesentliche.