Deutschland ist kein Millennium-Musterland

■ In der Bundesrepublik wird das Jahr-2000-Problem nicht sehr ernst genommen. Die computergesteuerten AKW des Westens sind gefährdeter als die im Osten und Süden

Die Schwierigkeiten bei der Umstellung der elektronischen Datenverarbeitung zum Jahreswechsel 1999/2000 halten Computerfachleute aus Verwaltungen, Banken, Fluggesellschaften, Versicherungen, Telekommunikationsunternehmen und an den Börsen auf Trab. Schuld ist das sogenannte Jahr-2000-Problem: Weltweit speichern die meisten EDV-Systeme vierstellige Jahreszahlen aus Speicherplatzgründen derzeit nur als zweistellige. Beim Wechsel von 99 auf 00 wird es schwierig, weil der Computer das Jahr 00 nicht als höhere Jahreszahl anerkennt, sondern als lange zurückliegendes Datum. Ganze Telekommunikations- und Stromnetze, so die Befürchtung, könnten zusammenbrechen.

Zwar mahnt der Berliner Chaos-Computer-Club zur Besonnenheit; andere Experten dagegen schätzen den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch das Jahr-2000-Problem weltweit entstehen wird, auf rund 600 Milliarden Mark. Deutschland gehört laut einer Studie der Organisation for Economic Co-operation and Developement (OECD) zu den Ländern, die am schlechtesten vorbereitet sind. Gefährdet sind nicht nur Transportwege und die Versorgung, sondern auch die Sicherheit der Bevölkerung, etwadurch Pannen in Atomkraftwerken.

Bereits vor einem Jahr ließ die schleswig-holsteinische Regierung als Vorreiterin deshalb die drei Atommeiler in ihren Landesgrenzen testen. Das Ergebnis wertete der grüne Energiestaatssekretär Wilfried Voigt damals als „kritisch“. Mindestens zwei von 46 Systemen müßten ausgetauscht werden, unterstrich er gestern erneut. Es handele sich um die „Kaminbilanzierung“, die die Edelgas- und Jodabgaben aus dem AKW erfaßt. Ernster noch sei das Problem bei der rechnergesteuerten Kernüberwachung. Sie mißt den Abbrand der Brennelemente in den AKW und zeigt an, wann diese auszutauschen sind.

Die deutschen Kraftwerksbetreiber dagegen sind zuversichtlich, bis zu der von den Aufsichtsbehörden gesetzten Frist Ende September sämtliche Mängel durch Systemaustausch und Backup-Maßnahmen behoben zu haben.

In den Atomreaktoren in den osteuropäischen sowie in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern, so der unabhängige Atomexperte Helmut Hirsch aus Hannover, „ist die direkte Gefahr des Datumswechsels nicht für so groß“. Aufgrund der „technologischen Rückständigkeit“ seien Sicherheits- und Reaktorschutzsysteme dort in der Regel nicht computergesteuert, sondern mechanisch. Auch die russischen Atomwaffen, suchte die Moskauer Regierung unlängst nach Warnungen der norwegischen Umweltorganisation Bellona zu beschwichtigen, würden nur von Hand gestartet.

Die USA, wo das Jahr-2000-Problem sehr ernst genommen wird und wo Survival-Training-Kurse die Volksmassen mobilisieren, haben Rußland vorgeschlagen, daß in der kritischen Zeit beide Länder gemeinsam die Atomwaffen überwachen könnten.

Unsicherheit herrscht auch in der Luftfahrt. Die niederländische Regierung will allen Fluggesellschaften mit Beginn des neuen Jahres die Benutzung des Flugraums untersagen, wenn diese nicht ihre Jahr-2000-Tauglichkeit nachweisen können.

Am größten deutschen Flughafen in Frankfurt dagegen „gibt es solche Auflagen nicht“, sagte ein Sprecher. Nach jahrelangen Tests, Simulationen und Systemoptimierungen erfülle der Flughafen „alle Voraussetzungen für einen störungsfreien Betrieb“. Der größte Reisebüroverbund in Japan wiederum hat sich entschlossen, keine Flüge zu verkaufen, bei denen die Maschinen in der kritischen Zeit in der Luft sein könnten.

Banken und Versicherungen in Deutschland dagegen fühlen sich schon jetzt 2000-fit. „Wir haben globale Tests bestanden, eine Milliarde Mark investiert und sehen einem reibungslosen Ablauf unserer Zahlungswege gelassen entgegen“, prahlte gestern eine Sprecherin der Deutschen Bank.

Für dennoch auftretende Fehler bei der Jahr-2000-Umstellung haften nach Auskunft der Münchener Anwaltskanzlei Graefe & Partner im Zweifel die Unternehmen beziehungsweise deren Geschäftsführer. Können letztere keine ausreichende Schadensvorsorge nachweisen und strengt ein Kunde wegen nicht erfüllter Lieferung eine Schadensersatzklage an, zahlt der Geschäftsführer.

Informationstechnologie-Unternehmen haben sich deswegen zur „Initiative 2000“ zusammengeschlossen. Unter www. initiative2000.de beraten sie via Internet kleine und mittelständische Betriebe. So wird geraten, einen „höheren Lagerbestand an Rohstoffen und Halbfertigerzeugnissen“ vorzuhalten, alle Dateien vor dem 1. Januar 2000 zu sichern und eine „Urlaubssperre von Dezember 1999 bis März 2000“ zu verhängen. Heike Haarhoff