Soll keiner sagen, er hätte es nicht gewußt

Millenniumfieber: Bernd Bruns ist auf das Schlimmste vorbereitet. Wenn am 1. Januar 2000 die Computer verrückt spielen, wenn es kein Wasser, keinen Strom und nichts mehr zu essen gibt, dann wird der Frührentner sich zu helfen wissen. Auch gegen den plündernden Mob. 20 Damen haben sich schon unter seinen Schutz gestellt  ■ Von Heike Haarhoff

Der Mob kennt keine Scham. Der Mob nimmt sich, was er braucht. Und der Mob holt uns alle, eines Tages. Bis dahin bleibt nicht viel Zeit. Das Datum steht schon fest. Die Silvesternacht 1999/2000, wenn die Lichter ausgehen und alle Computersysteme dieser Welt zusammenbrechen werden, „diese Nacht wird die Stunde des Mobs sein“. Bernd Bruns richtet sich in seinem Sessel auf. Er warnt. Er prophezeit. Er schwört.

Aber kaum jemand schenkt ihm Gehör. Keine Landesbehörde, keine Bundesanstalt für Katastrophenschutz, keine Polizeidirektion hat bislang die mahnenden Rufe des Frührentners aus Wiesbaden vervielfältigen und „an alle Haushalte verteilen“ wollen, „was doch so wichtig wäre“.

Bernd Bruns sackt langsam in seinem Sessel zusammen. Vor ihm, umrahmt von zwei Kukkucksuhren, einer beigefarbenen Stehlampe mit roter Borte und einer Eichenvitrine, steht sein Couchtisch. Darauf liegen zwei schreibmaschinenbeschriebene Blätter mit Verhaltensregeln darüber, „wie sich der kleine Mann vor der Millenniumkrise schützen kann“. Ihr Verfasser: Bernd Bruns, Wiesbadener Bürger, Diplomdrogist im Vorruhestand, Alter – „ja, das weiß ich nicht, ich bin Jahrgang 41, da kann jeder selber rechnen“.

Er macht einen Versuch, das zerknitterte türkisfarbene T-Shirt glattzustreichen, greift nach seiner Brille, und die Stimme hebt feierlich an, während er von einem der Zettel abliest: „Ich will eine kleine Hilfe geben für die kleinen Haushalte; ich will dem kleinen Mann erklären, wie er das Jahr 2000 überstehen kann.“ Er setzt hinzu: „Ich bin der etwas größere Mann.“

Es folgen minutiöse Anleitungen zur Selbstmontage von Photovoltaik- und Regenwassergewinnungsanlagen und Propangaszimmeröfen. „Jeder kann sich einen Propangaszimmerofen leisten“, sagt Bruns und zieht die Augenbrauen sehr streng zusammen, „er muß eben nur ein Steak weniger essen“. Dann gibt es eine Aufzählung über „frühzeitige Lebensmittelbevorratung“ sowie Tips, wie die kostbaren Schätze am besten zu lagern sind – „auch eine Badewanne kann als Behälter dienen; man muß sie nur mit einem Brett abdunkeln, zum Schutz vor Bakterien“.

Bernd Bruns glaubt, ach was, er weiß, „daß uns der Computersprung das Leben kosten kann“. Seit fünf Jahren, seit er aus dem Betrieb einer großen Chemiefirma ausschied und allein lebt in einer umgebauten, „ehemaligen Reichsarbeitsdienstbaracke“, in der lokker sechs Personen zum Wohnen Platz hätten, mahnt er zur Obacht. Denn „ich hatte Zeit, auf Messen zu gehen und mich über Insider-Informationen schlau zu machen“. Auf die Umstellung vom Jahr 1999 auf das Jahr 2000 seien die wenigsten Computer vorbereitet. „Aber alles wird heutzutage per Knopfdruck bestimmt, und wenn es da einen Fehler im System gibt, dann ist der Super-GAU da, dann gibt es wochenlang keinen Strom, kein Wasser, keine Nahrungsmittel mehr“. Dann gibt es nur noch „den Mob, man kennt das ja aus arabischen Staaten“, Bernd Bruns gruselt sich bei der Vorstellung, „wo die Menschen, die nichts mehr zu essen haben, in Scharen bei denen einfallen, die noch ein paar Vorräte haben“.

Es ist der „Überlebenswille“, sagt Bruns, der ihn antreibt. Seit Wochen vergeht kein Tag, an dem der schlaksige Mann nicht die Supermärkte in seiner Umgebung nach Konserven, eingeschweißtem Schinken und anderen lange haltbaren Lebensmitteln durchflöht. 2000 naht.

Hoch oben auf der Schrankwand im Wohnzimmer liegen unter Geschirrtüchern zehn gewichtige Parmesanklumpen versteckt. Zusammengesetzt würden sie wohl ein Wagenrad ergeben. „Ich lebe immer so ein bißchen in den Superlativen.“ Bernd Bruns grinst listig. Dann verweist er auf die kleinen Schweißperlen auf dem Käse: Er hat ihn mit Salz bestreut, „das entzieht ihm die Restflüssigkeit und macht ihn haltbarer“.

Bereitwillig führt der Hausherr durch sein Heim. Im Keller sind die Kabel, die Schläuche und die Rohre seiner selbst eingebauten Wasseranlage, die Regenwasser aus einer unterirdischen Zisterne im Garten zu Trinkwasser aufbereitet, freigelegt. „Jeder kann kommen und sich ansehen, wie einfach es ist, autark zu sein“, sagt Bruns. „Wenn Sie also einen Artikel schreiben, dann geben Sie bitte auch meine Adresse an.“

Die Thermosolaranlage, die das Wasser aufheizt, funktioniert rein mechanisch. Und wenn in den nächsten Tagen die Photovoltaikanlage auf dem Dach installiert sein wird, wird Bruns sogar seinen eigenen Strom haben.

In einem Vorratsschrank stehen aufeinandergestapelt 15 Fischeimer, „die sind im Gegensatz zu herkömmlichen Putzeimern absolut dicht“. Bernd Bruns macht jeden einzelnen auf. Zum Vorschein kommen kiloweise Zwieback, Knäckebrot, Getreide, als betreibe Bruns eine Bäckerei, Tee wie zur Versorgung eines russischen Schlafwagens, Thunfischbüchsen, Zucker. „Ich habe Proviant für mindestens vier Wochen.“

Trotzdem fühlt er sich nicht behaglich. „Man wird natürlich versuchen, mich zu bestehlen.“ Deswegen will Bruns wenige Tage vor Silvester einen Großteil seiner Vorräte „in einer Fledermaushöhle“ an einem geheimen Ort im Taunus vergraben und von dort in Rationen für den täglichen Bedarf zurückholen.

Einer der 10-Liter-Eimer enthält ausschließlich Zuckerrübensirup. „Wissen Sie“, sagt Bruns, als er die staunenden Blicke streift, „es haben sich so etwa 20 Damen aus meiner Nachbarschaft unter meinen Schutz gestellt.“ Sie alle hat er eingeladen, die kommende Silvesternacht bei ihm zu verbringen. Das hat – neben der Geselligkeit – auch einen praktischen Vorteil: „Wenn die Lichter ausgehen und der Mob lostobt, können wir ein lebendiges Schutzschild aufbauen.“

Sollte es schlimmer kommen, hat sich Bruns vorsichtshalber schon eine Waffe besorgt. „Und schon jetzt“, flüstert er, „schlafe ich mit einem schweren Kabel unterm Kopfkissen. Wenn Sie das einem Einbrecher über den Kopf ziehen – das überlebt keiner.“

Sollten er und seine 20 Gäste wider Erwarten unbeschadet ins neue Jahrtausend kommen, dann will Bruns sich beim Frühstück am Neujahrsmorgen nicht lumpen lassen. Zuckerrübensirup jedenfalls ist ausreichend da. Sorgfältig verschließt er den Dekkel über zehn Liter Brotaufstrich.

Kontakt: Bernd Bruns, Rudolf-Vogt-Str. 11, 65187 Wiesbaden, Tel.: (0611) 16 90.