Reiseleiter der Versöhnung

■  Seit 30 Jahren organisiert Rüdiger Nemitz das Besuchsprogramm für frühere Berliner, die in der Nazizeit aus der Stadt fliehen mußten

Die Flucht nach Brüssel, der Sprung aus dem Deportationszug, das Überleben als Knecht auf einem Bauernhof im besetzten Belgien: Rüdiger Nemitz kann sich diese Geschichte von Marc Wiesenfeld nicht anhören, heute nicht. Nemitz, der gerade hastig in den Raum stürmt, als Wiesenfeld dies erzählt, ist im Streß – wegen Wiesenfeld und, mit Begleitung, 153 anderen ehemaligen Berlinern, die seit Dienstag auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters für eine Woche in der Hauptstadt sind.

Nemitz ist der Leiter einer kleinen Abteilung im Protokollreferat des Senats und organisiert seit 30 Jahren ein Programm, das 1969 zum ersten Mal anlief: eine Besuchsreise für alle Berliner, denen die Nazis ihre Heimat raubten. Es sind Berliner Jüdinnen und Juden vor allem, aber auch Kommunisten, Gewerkschafter oder Retter von Juden, die ins Exil gingen oder verschleppt wurden – manche, wie Marc Wiesenfeld, sind seitdem nie mehr in Deutschland gewesen.

Doch jetzt, auf dem dicken Teppich in der Hotellobby eines Fünf-Sterne-Hotels an der Friedrichstraße, hat Nemitz keine Zeit für solche Gedanken. „Heute hakt's ein bißchen“, sagt der weißhaarige Mann, der in seiner sandfarbenen Freizeitkluft auch gut als Reiseleiter durch die Sahara durchgehen würde, wäre da nicht die hochgeschobene Lesebrille auf seinem Kopf, die den Landesangestellten verrät. Alles soll nach Plan gehen, es ist Anreisetag. Soeben hat er über sein Handy von einem Mitarbeiter erfahren, daß eine Maschine am Flughafen Tegel später kommt. Und das heißt: Wieder Besucher, die wegen des Urlaubsverkehrs einen Anschlußflug verpaßt haben. „So viele Schwierigkeiten hatten wir noch nie“, sagt er verärgert.

Fehler fuchsen ihn sichtlich. Denn das Programm, das auf einem Abgeordneten-Beschluß von 1969 beruht, ist so etwas wie sein Kind: Seit dem ersten Jahr hat er als Student mitgeholfen, dann als Honorarkraft, schließlich hauptamtlich. Ein ganzes Jahr plant er für die jährlich zwei Reisen, die schon etwa 33.000 ehemalige Berliner in die Hauptstadt gebracht haben: Heute ist er um zwei Uhr aufgewacht, obwohl er eigentlich erst um vier Uhr hätte aufstehen müssen – seit fast zwölf Stunden ist er auf den Beinen.

Doch zum Ausruhen ist keine Zeit. Der 53jährige Senatsangestellte eilt durch die Backsteinarkaden des Roten Rathauses in sein Büro, um schnell nach E-Mails zu schauen. „Das sind übrigens die Akten der Teilnehmer“, sagt er, den Blick auf den Bildschirm, mit einem Wink in Richtung eines Stapels von Papieren: Manchmal findet er in Akten von 1969 Bemerkungen, die er als Student vor 30 Jahren eingetragen hat. Heute braucht er eine Brille, um die winzige Handschrift zu entziffern.

Daß er heute noch so alte Unterlagen durchstöbert liegt daran, daß die Wartezeiten für das Besuchsprogramm sehr lang sein können. Zwei Teilnehmer dieser jetzigen Reise haben sich 1969 zum ersten Mal dafür beworben. Warum es so lange dauerte, daß sie mitkonnten, weiß Nemitz nicht genau – vielleicht ging zwischenzeitlich der Kontakt verloren oder andere, ältere, kranke Bewerberinnen hatten Priorität. Der Etat von einer Million Mark im Jahr, sagt Nemitz, sei ein „Flaschenhals“, durch den er soviel Gäste wie möglich zu pressen versuche. Aber oft reiche es eben nicht für die zwei mal 200 Personen, die man jedes Jahr einladen wolle. Immerhin ist das Programm das größte dieser Art in Deutschland.

Jetzt schnell weiter per U-Bahn zum Flughafen Tempelhof, wo zwei Besucher mit einem Flug aus Brüssel kommen sollen. Als das Abgeordnetenhaus damals fraktionsübergreifend den Beschluß für die Einladungsreisen traf, „ahnte man nicht, was kommt“, erzählt Nemitz. Es kamen „Berge von Post“, obwohl die Reise nur in der Berliner Lokalpresse und in einem einzigen Artikel der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau in New York erschien. Seitdem wurde nie mehr für das Programm Werbung gemacht, alle Gäste kamen seither von sich auf die Organisatoren zu. „Das ist von Mund zu Mund gegangen“, erzählt Nemitz, „was vormittags im Referat beschlossen wurde, war nachmittags in Tel Aviv bekannt.“ Jedes Jahr kommen etwa so viele Bewerber hinzu, wie gereist seien, berichtet Nemitz. „Etwa 2.000 Akten“ sind noch übrig – wie lange das Besuchsprogramm laufen werde, ist unklar. Die jüngsten Teilnehmer sind in den späten 30er, frühen 40er Jahren geboren. Vor 1933 gab es etwa 100.000 Juden in Berlin.

Jetzt ist der Flughafen Tempelhof erreicht, die Anzeigetafel im prächtig-klotzigen Nazibau zeigt wieder eine Verspätung des Flugs aus Brüssel an. Nemitz kann durchatmen, aber das ist dann doch etwas zuviel Wartezeit. „Miriam, kommt ihr mit den Taxi-Gutscheinen zurecht?“, fragt er am Handy eine Mitarbeiterin, die in Tegel Leute abholt – zur Zeit, räumt Nemitz ein, sei er für seine Frau und die beiden Kinder kaum ansprechbar. Kurz vor Programmbeginn stehe er manchmal nachts „senkrecht im Bett“, da ihm im Schlaf etwas Wichtiges eingefallen ist. Man müsse sich bei den vielen traurigen Geschichten, die er erzählt bekomme, manchmal eine „harte Schale“ zulegen, sonst bringe man das Programm nicht auf die Reihe. Aber alle seine Mitarbeiter besäßen eine „besondere Feinfühligkeit“, lobt er.

Jetzt ist der Flug aus Brüssel angekommen. Nemitz stellt sich mit einem Schild „Senat Berlin“ vor die Kofferlaufbahn – weiß wie Kalk und völlig übermüdet hebt Erika Eden aus Austin, Texas, ihren Koffer auf einen Gepäckwagen. „Ich konnte in der Nacht schlafen“, beruhigt die 78jährige Nemitz, der den Wagen packt und zum Taxi schiebt. Eine ähnlich alte Teilnehmerin, erzählt Nemitz, sei mal aus Neuseeland, über Kalifornien nach Berlin gekommen, ohne einmal aus dem Flugzeug zu steigen. 35 Stunden Flug. „ ,Es ging', hat sie bloß gesagt – ich hätte es nicht geschafft.“ Begeistert erzählt Nemitz auch von den Berlinern, die aus Alaska kamen und erst mit einem Hundeschlitten zum nächsten Flughafen gebracht werden mußten, um nach vielen Umstiegen in ihre alte Heimatstadt zu gelangen. „Für viele schließt sich ein Kreis“, sagt Nemitz. Die Einladung der Stadt sei für die meisten eine „Geste“, die nichts wiedergutmache, aber auf die viele gewartet hätten. Es sei eine ausgestreckte Hand, die die Gäste ergreifen könnten oder nicht: Oft sei die Reaktion „so überschwenglich, daß es schon unangenehm ist“.

Im Hotel angekommen, setzt sich Fred Jentes aus Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio in einen Sessel in der Lobby. Er ist als Zehnjähriger noch 1938 mit einem Kindertransport nach England aus Berlin rausgekommen – bis auf seine Schwester wurde seine ganze Familie ermordet. Es sei „komisch“, sagt er auf deutsch, wenn er die Nationalmannschaft im Fernsehen spielen sehe, „will man im Herzen, daß Deutschland gewinnt“. Im Gegensatz zu John F. Kennedy sei er wirklich ein Berliner. Jentes will in Weißensee zum Grab seiner Großmutter gehen, um für sie zu beten. Vielleicht werde er ja auch in ein paar Jahren wieder nach Deutschland ziehen, nach Bad Sarow in Brandenburg, wo er noch ein Grundstück habe, erzählt er – aber auch diese Geschichte kann Nemitz nicht hören. Er ist schon fort, wieder organisieren. Für die wenigen, die noch da sind.

Philipp Gessler

Manchmal findet Nemitz in den Akten von 1969 Bemerkungen, die er vor 30 Jahren als Student eingetragen hatte „Das Programm“, sagt er, „ist eine Geste, die nichts wiedergutmacht, auf die aber viele gewartet haben“