Sozialismus gestrandet

■ Amerika als Kalenderblatt an der Wand: „Blinder Passagier“ ist ein schnörkelloser Film über die Wiederkehr des verlorenen Sohnes

Wir befinden uns in der usbekischen Republik Karakalpakien. Die Monokultur der Baumwollplantagen hat die Landschaft zerstört, der Aralsee, die Lebensgrundlage der Menschen, ist ausgetrocknet. Der junge und sympathische Held Orazbaj (Bekzod Mukhamedkarimov) hat sich im Büro einer stillgelegten Fischverarbeitungsfabrik ein Zimmer eingerichtet – wie zum Hohn sind in seinem Regal unzählige Fischkonserven kunstvoll zur Pyramide aufgeschichtet.

Gestrandeter Sozialismus am Ende der Welt: Orazbajs Traum vom „gelobten Land“ Amerika hängt als Kalenderblatt an der Wand. Aber sein alter Vater verlangt wider alle Vernunft von ihm, seinen verrotteten Kahn wieder instand zu setzen, um, wenn das Wasser zurückkommt, das Leben als Fischer wiederaufzunehmen. Heimlich verläßt Orazbaj sein Dorf und landet als „blinder Passagier“ im Umschlaghafen von Rotterdam.

Katharine, die Ehefrau eines Seemanns (Ariane Schluter), nimmt ihn auf. Wie ein abgestürzter Vogel haust er auf dem Balkon der fremden Familie, umgeben von Hochhäusern, die den Traum von der New Yorker Skyline zu einem Alptraum werden lassen. Doch dann entwickelt sich zwischen Katharine und Orazbaj eine liebevolle Beziehung. Auch Katharines kleiner Sohn Maarten (Rick van Gasel) schließt Orazbaj in sein Herz. Aber ihr Glück währt nicht lange. Als der Ehemann (Dirk Roofhoft) von seiner Seereise zurückkehrt, verrät er den Nebenbuhler an die Ausländerpolizei. Orazbaj muß in sein Land zurück.

Der „verlorene Sohn“ wird vom überglücklichen Vater wiederaufgenommen, und auch die Frau, die ihn liebt, hat auf ihn gewartet. Erstaunt stellt Orazbaj fest, daß sich einiges verändert hat: Der Kahn glänzt weiß gestrichen im Wüstensand, und – o Wunder! – nach einem sintflutartigen Regen umspült für kurze Zeit sogar wieder Wasser das Schiff.

Ob das der Kindertraum von Maarten bewirkt hat, der im fernen Rotterdam nach einem Telefongespräch mit Orazbaj alle Wasserhähne zu Hause aufdreht, um den Aralsee zu füllen? Jedenfalls erscheint er mit seiner Mutter noch einmal am Tag von Orazbajs Hochzeit – allerdings nur als Fata Morgana in der flimmernden Wüstenhitze. Denn Orazbaj weiß jetzt, wo er hingehört.

Mit einfachen, schnörkellosen Bildern (Kamera: Stef Tijdink), die die Kargheit der Landschaft und seiner Menschen spiegeln, erzählt Regisseur Ben van Lieshout die Geschichte von Orazbajs Reise und Wiederkehr als ein Gleichnis. Immer wieder durchziehen religiöse Motive und Symbole den triptychonartig aufgebauten Film, man denkt an die Arche Noah, die Speisung der fünftausend oder die Hochzeit zu Kana.

Nicht von ungefähr hat „Blinder Passagier“ neben einigen Internationalen Auszeichnungen (1999 „International Jury Award“, Internationales Filmfestival Rennes; 1998 „Silver Rosa Camuna“, Bergamo Filmfestival) auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg 1997, wo er zum besten Spielfilm gekürt wurde, mehrere kirchliche Preise bekommen.

Mit seiner altmodisch anmutenden Machart ist „Blinder Passagier“ sehenswert, schon wegen der Begegnung mit einem Land, das sehr weit weg von uns ist, und der unprätentiösen Spielweise der Darsteller. So verzeiht man dem Film auch den manchmal aufdringlichen Gutmenschenton und die etwas holzschnittartige Weltsicht, die in der Botschaft gipfelt, man brauche nur dahin zurückzukehren, wo man hingehört, um glücklich zu sein. „Wo wenig wächst, da wächst die Seele“, sagt Orazbajs Vater einmal. Im Kapitalismus wachsen nur die Wolkenkratzer, und fortan lebt unser Held in Armut und Frieden mit sich selbst. Christiane Nalezinski

„Blinder Passagier“. Regie: Ben van Lieshout, Niederlande 1997, 90 Min. Filmbühne am Steinplatz und Hackesche Höfe 5