Ein Überbrückungskünstler

Dramatik, Sprödheit und unverbrauchter Optimismus: Zwei Ausstellungen zum 100. Geburtstag des Malers, Zeichners, Bühnenbildners, Designers, Architekten und Lehrers Gabriele Mucchi  ■   Von Michael Nungesser

„Gabriele Mucchi ist der erste bildende Künstler von Rang, der 100 Jahre alt wird.“ Mit diesem lapidaren Satz wird das zum Geburtstag erschienene Heft 1 der ZeitSchrift eingeleitet, das dem Jubilar gewidmet ist. Das Motto lautet „Künstler zwischen Macht und Vernunft“. Doch nicht allein sein Alter ist erstaunlich, sondern ebenso die Vielseitigkeit von Mucchi, der Maler, Zeichner, Bühnenbildner, Illustrator, Architekt, Designer, Lehrer und Übersetzer ist. Hinzu kommt seine Brückenfunktion zwischen Deutschland und Italien, zwischen Berlin und Mailand. Anfang der Dreißiger heiratete Mucchi die 1895 in Berlin geborene Bildhauerin Jenny Wiegmann, gehörte mit ihr zum antifaschistischen Widerstand in Italien und zur Künstlerbewegung des „Realismo“. So war nach dem Krieg die Annäherung an die DDR konsequent. Mehrere Jahre unterrichtete Mucchi an der Kunsthochschule in Weißensee, war Gastprofessor an der Universität Greifswald. Seine kritische Haltung gegenüber zeitgenössischen Strömungen in der Kunst brachte mittelmeerische Atmosphäre in die sozialistische Kargheit.

Unter dem Titel „Realismo + Razionalismo“ finden nun viele Veranstaltungen statt, koordiniert von der Kunststiftung Poll Berlin. Zur Zeit sind im Ephraim-Palais Gemälde, im Brecht-Haus Weißensee Zeichnungen zu sehen. Bei den Ausstellungseröffnungen ließ sich der Künstler brieflich entschuldigen: Die Hitze erlaube ihm das Reisen nicht; aber im September wolle er kommen. Beeinflußt von der neusachlichen Novecento-Bewegung, von Caravaggio und Masereel, Courbet und Kollwitz, hat Mucchi einen realistisch-expressiven Malstil entwickelt, in dem sich Dramatik und Sprödheit vereinen. Ein eigener, nie sich verfestigender Malstil, typisch für „das Gesetz der langsamen, unsicheren Entwicklung meiner Künstlerpersönlichkeit“, wie Mucchi in seinen Erinnerungen „Verpaßte Gelegenheiten“ (1997 auf deutsch) schreibt. Der Kampf der einfachen Menschen gegen natürliche wie gesellschaftliche Gewalten hat ihn immer wieder beschäftigt. Daneben stehen Bildnisse, Akte, Stilleben von schlichter Schönheit und unverbrauchtem Optimismus. Erstaunlich, daß parallel zur großen Mailänder Retrospektive, unter anderem mit Leihgaben aus Berlin, Dresden und Magdeburg, auch hier eine gewichtige Rückschau zusammengekommen ist.

Beide Berliner Ausstellungen enthalten auch skulpturale Arbeiten der 1969 verstorbenen Lebensgefährtin Jenny Wiegmann Mucchi. Sie hatte bei August Krarus und Lovis Corinth studiert und in ihrem Frühwerk vor allem christliche Motive verarbeitet. Von archaisch-stilisiertem Ausdruck fand sie allmählich zu einer persönlichen, malerisch-figurativen Darstellungsform. Unprätentiös, ohne Gefühligkeit stellte sie symbolhaft den einzelnen Menschen in der Behauptung seiner Identität und Würde ins Zentrum. In Italien nannte man sie die „Bildhauerin der Partisanen“. Im Ephraim-Palais finden sich frühe Kleinplastiken wie „Akt mit wehendem Haar“, die schwere „Erde“ und der zartgliedrige „Jüngling (Pubertät)“ sowie ein Porträt ihres Mannes. Im Garten des Brecht-Hauses Weißensee sind Arbeiten in Bronze oder Zement aus späteren Jahren versammelt: „Frau auf dem Geländer‘“, „Schwimmerin“ und politisch inspirierte Werke wie „Verhör in Algerien“, „Lumumba“ oder „Das Jahr 1965“, das – Vietnam gewidmet – von einer gespannt abwartenden Frau verkörpert wird.

Weitere Veranstaltungen zu Ehren von Gabriele Mucchi sollen demnächst folgen. In der Galerie in der Musikschule werden Fotografien, Architekturen, Bühnenbilder und Möbel zu sehen sein, ist der Künstler doch gelernter Bauingenieur und ein wichtiger Vertreter des Funktionalismus oder (wie im Titel angezeigt), des „Razionalismo“. Die Galerie 100 wird Plakate und Plakatentwürfe, die Galerie der Berliner Graphikpresse Druckwerke zeigen, im Brecht-Haus Weißensee wird es ein Symposium über Mucchis Beitrag zu östlichen Kunstdebatten der fünfziger Jahre geben, und in der Dorfkirche Alt-Staaken ist – nach langen Verzögerungen – für den 19. Septemer die Einweihung seiner Wandmalerei „Versöhnte Einheit“ vorgesehen: Alles in allem eine runde Sache.

Museum Ephraim-Palais, Poststr. 16, bis 10. 10.; Brecht-Haus Weißensee, Berliner Allee 185, bis 19. 9. Neueste Publikationen: Ausst.-Kat. „Gabriele Mucchi. Cento anni. Mostra antologica“. Mailand, Silvana Editoriale, 60 DM; „ZeitSchrift“. Berlin, Edition Manfred Schmidt, 16 DM