Wer rastet, der rostet

Susan A. Greenfield führt uns in ihrem „Reiseführer Gehirn“ händchenhaltend und plaudernd durch die aufregende Welt der Schaltkreise  ■   Von Wolfgang Müller

„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit, leicht bei einander wohnen die Gedanken ...“ Schiller, „Wallensteins Tod“

Die Reise in ein Land, welches vorher nur als Roman, Post- oder Landkarte bekannt war, ist immer auch eine Reise, bei der wir über den Kontrast unserer vorauseilenden Phantasie mit der sogenannten Wirklichkeit staunen. Vielleicht ist es also besser, sich erst mal gar nichts vorzustellen. Doch selbst der Geruch des am Baum baumelnden Pfirsichs in Capri ist erstaunlicherweise mit Vorurteilen und Vorgeschmack so eng verknüpft, daß sich irgendwann die Frage stellt: Wie, wo lang und wohin reist eigentlich das Gehirn? Macht es so oder so seine eigene Reise inklusive seiner Fähigkeiten und Unwägbarkeiten? Ist es überhaupt noch nötig wegzufahren? Susan A. Greenfield, Professorin für Pharmakologie in Oxford, ist unser Guide im „Reiseführer Gehirn“. Sie spricht uns mit „wir“ an, führt plaudernd und händchenhaltend durch die aufregende Welt der Schaltkreise und Hirnelektrizität, erläutert anschaulich das Ganze und die Einzelteile. Das ist besonders spannend für neugierige Nichtwissenschaftler. „Das aufregendste Gebilde im ganzen Universum“, nennt sie das schrumpelige, schmerzunempfindliche Teil, welches weiß, rosa bis bräunlich gefärbt unter der Hirnschale liegt. Tatsächlich ist mir ein Trip, unternommen 1976 von meiner Heimatstadt Wolfsburg nach Braunschweig, unvergeßlich geblieben. Braunschweig ist die Stadt, in der der in Braunau geborene Hitler – der schließlich auch eine Frau namens Braun heiratete – die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt.

Nach dieser kleinen Abschweifung wieder schnell zurück zum Gehirn, in welchem in den vergangenen Jahrhunderten Ärzte und Wissenschaftler versuchten, die Örtlichkeiten zu lokalisieren, in denen Sehen, Hören, Schmecken, Lesen und Fühlen beheimatet ist. Da die Regionen mittlerweile ziemlich genau bestimmt zu sein scheinen, den Spezialisten also nichts weiter übrig bleibt, als in Mikromikrokosmen zu forschen, werden Zusammenhänge wieder bedeutsam. So auch im vorliegenden Reiseführer, welcher in glänzendem tomographischen Lamellencover eingeschlagen ist.

Er richtet sein Augenmerk verstärkt auf die Vernetzung der unterschiedlichen Areale, fragt, wie, wo und warum sie kooperieren: Interdisziplinäres und Cross-over-Denken gewinnt auch in der Wissenschaft weiter an Bedeutung. Selbst Außenstehende dürfen heute mitforschen. Künstler installieren eine Skulptur im Foyer des Forschungszentrums – vielleicht einen buntschillernden kernspintomographierten Goldfisch –, sind glücklich und stolz, ihren Beitrag zur Überwindung der Trennung von Kunst und Wissenschaft geleistet zu haben.

Die Wissenschaftler vereinigen sich im Gegenzug mit den Akademiekünstlern: Spaß muß sein. Kaiser Hirohito, der Hobby-Meeresbiologe, beobachtete einst eine Seescheide, die als jugendliches Tier frei umherschwamm – im Erwachsenenalter sich an einen Felsen heftete und dabei ihr Gehirn regelrecht einschmolz. Warum auch nicht? Wer rastet, der rostet. Reiseziele wechseln ihre Bedeutung. Die geheimnisvoll kreisende glasklare Cerebrospinalflüssigkeit in Hirn und Rückenmark, die mittels einer Lumbalpunktion mit einer Spritze aus der Wirbelsäule entnommen werden kann, galt vor Hunderten von Jahren noch als Seelenort, heute bezeichnen Neurologen sie gern als „Urin des Gehirns“. Der Blick durch die Augen des Grasfrosches auf eine atemberaubende Landschaft zeigt nur ein paar schwarzweiße Konturen und als Höhepunkt einige herumschwirrende Pünktchen, Fliegen sind das. Und wie entsteht eigentlich Individualität? Warum und wie funktioniert Akupunktur? Prof. Susan Greenfield, die nicht versäumt zu erwähnen, daß sie die stereotypen Bewegungen von Ratten unter Ecstasy in erschreckender Weise an tanzende Raver erinnern, macht sich spannende Gedanken und uns neugierig.

Susan A. Greenfield: „Reiseführer Gehirn“, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin, 199 Seiten, 39,80Mark

Kaiser Hirohito beobachtete einst eine Seescheide, die sich an einen Felsen heftete und dabei ihr Gehirn regelrecht einschmolz