Jenseits von Schengen

Völkermord und politische Konflikte bestimmten die Themen der zeitgenössischen Dramen beim Theaterfestival in Avignon. Überzeugender als alles Doku-Theater war Hristo Boytchevs bulgarische Typenkomödie mit Beckett-Appeal  ■   Von Jürgen Berger

Mehr zeitgenössisches, mehr politisches Theater! forderte Bernard Faivre d'Acier, Chef des Theaterfestivals in Avignon, vor einigen Jahren und versprach, solchen Produktionen deutlich mehr Raum auf seinem größten Theaterfestival der Welt zu bieten. Im Resultat war das enttäuschend. Entweder hielten sich die Stücke in scheuer Ferne zur Tagespolitik, oder das Angebot war so bemüht aktuell, daß das Zusehen eine Qual war.

In diesem Jahr ist das anders. Nachdem man sich zu Beginn des Festivals an Shakespeares Königsdramen („Henry V“, „Henry IV“) abgearbeitet und Europas Geburt aus Machtkampf, Krieg, Blut und Verrat umkreist hatte, machten mehrere renommierte Theatertruppen und -autoren die Bühne zum Politpodium. Im Jahrzehnt der ethnischen Vertreibungen wurde „Genozid“ zum Schlüsselbegriff für die theatralischen Aneignungen der Wirklichkeit.

Die überzeugendste Parabel gelang Hristo Boytchev. Sein sprachlich genau komponiertes Drama „Le Colonel oiseau“ (Der Vogelhauptmann) situiert eine balkaneske Personnage im Niemandsland jenseits von Schengen, ohne den Ost-West-Konflikt Europas explizit zu thematisieren, und ist daher kaum mit den anderen, eher dokumentarischen Produktionen zu vergleichen. Boytchevs bulgarische Clowns sitzen in einer geschlossenen Anstalt und sind quietschfidel. Vielleicht geht es ihnen besser als dem gemeinen Zentraleuropäer, und vielleicht könnte es Hatcho, Davud, Cyril, Matei und Pepa auch noch lange gutgehen – begänne der merkwürdige und seit drei Jahren stumme Russe im dritten Bett von links nicht plötzlich wieder zu sprechen. Er ist Boytchevs „Vogelhauptmann“ und beschert den Ausgegrenzten neue politische Visionen sowie einen geregelten Tagesablauf inklusive Körperpflege und Selbstvertrauen. Am Ende hüllt sich die verrückte Balkan-Connection in hellblaue UNO-Decken und macht sich auf den Weg nach Straßburg, um Einlaß in den Club der Besserverdienenden mit Bandscheibenproblemen zu fordern.

Bulgariens wichtigster Theaterautor ist ein Meister des Wortwitzes, und sein Stück wurde von Didier Bezace derart kongenial als Typenkomödie mit Beckett-Appeal inszeniert, daß Avignon einen Abend lang großes Schauspieler-Theater erleben konnte. Boytchev, der in Sofia lebt, sich 1996 als unabhängiger Kandidat für die bulgarischen Präsidentschaftswahlen aufstellen ließ und immerhin zwei Prozent für sich verbuchen konnte, erobert als Autor gerade Resteuropa. Sein „Vogelhauptmann“ wird unter anderem in St. Petersburg, Wien, Prag und am renommierten Londoner Gate-Theatre gespielt, und eine Inszenierung des Centre Dramatique d'Aubervilliers wird in ganz Frankreich zu sehen sein.

„Le Colonel oiseau“ überzeugt, weil Boytchev in einem fiktiven Stück Archetypen auf die Bühne bringt und dabei das ethnische Drama auf dem Balkan nur anklingen läßt. Das „Requiem pour Srebrenica“ des französischen Autors und Regisseurs Olivier Py funktioniert hingegen kaum, da er dokumentarisches Material – wie zum Beispiel Zeitungsberichte – nicht für sich sprechen, sondern anklagend vortragen läßt. Am Ende sind dann alle und vor allem die Medien am Bosniendrama schuld.

Py, der seine Stücke gerne selbst inszeniert, hat nicht nur eine verschworene Theatergemeinde um sich versammelt, sondern mit dem Centre Dramatique National/Orléans-Loiret auch ein Instrument zur Verfügung, das ihn zum Herrn seiner Bühnenphantasie macht. Nach Avignon wurde er in diesem Jahr mit zwei Produktionen geladen. „Theatres“, in der skelettierte Figuren aus Palästina oder Bosnien auftauchen, scheint ein Querverweis zum „Requiem“, mit dem Py das Srebrenica-Massaker aus dem Jahr 1995 thematisiert. Knapp zwei Stunden dauert das Drei-Frauen-Dokudrama, das erst dann lebendig wird, wenn Py kleine Persiflagen einstreut und François Mitterrand als verfehlten Balkan-Experten vorführt. Alles in allem wirkt das Drama jedoch, als habe sich ein mitteleuropäischer Autor noch einmal davon überzeugen wollen, daß er schon immer gegen das Balkanische an sich und die bösen Medien im besonderen gekämpft hat.

Konsequenter war da die Produktion der belgisch-französischen Gruppe „Groupov“ über den Genozid an den Tutsi. „Ruanda, 1994“ lautet der Titel eines fiktiv-dokumentarischen Abends, der in seiner jetzigen Form wie eine auf sechs Stunden komprimierte Vorlesungsreihe wirkt. Beeindrukkende Passagen gibt es jedoch auch, vor allem jene, in denen die Theatermacher aus Liège zum Einfachsten greifen und Betroffene auf die Bühne stellen. Zum Auftakt erzählt Yolande Mukagasana, wie Hutu-Milizen in ihr Haus eindrangen, Mann und Kinder massakrierten. Daß sie selbst überlebte, ist ein Wunder. Und wenn sie dann einem mitteleuropäischen Publikum fast eine Stunde ihren Leidensweg nachvollziehbar macht, ist das ein kathartischer Moment im Festivalgewimmel.

Wie Olivier Py nehmen sich auch Groupov die Medien vor und zeigen unter anderem, wie historische Zusammenhänge und belgisch-französische Verwicklungen in den Konflikt systematisch verschleiert wurden. Eine immense Stoffsammlung, die Groupov unter anderem während dreier Reisen nach Ruanda zusammengetragen hat.

In der jetzigen, noch mehr oder weniger unbearbeiteten Form von „Ruanda, 1994“ zeigt sich allerdings auch das Grundproblem eines aktuell-dokumentarischen Theaters: Es lebt in Gefahr, als pure Anklage auf der Bühne zu erscheinen und reflexartige Schuldentsorgung in Gang zu setzen. Der französische Zuschauer wird bei seinem schlechten Kolonialgewissen gepackt, sitzt gebannt in einem Abend kollektiver Schuldexegese und möchte wahrscheinlich spätestens nach zwei Stunden den Raum verlassen, um die tonnenschwere Last draußen in der heißen südfranzösischen Luft unbemerkt an einer Straßenecke abzuladen.

Im kommenden April soll die definitive Fassung von „Ruanda, 1994“ in Brüssel vorgestellt werden, wo sie auf maximal dreieinhalb Stunden Spieldauer angesetzt ist. Claude Buchvalds Inszenierung von Valère Novarinas „L'Opérette imaginaire“ dagegen sitzt schon jetzt perfekt und wird nach Avignon in Saarbrücken (September) und Remscheid (November) zu sehen sein. Novarinagilt seit dem Tod Bernard-Marie Koltès' als Frankreichs wichtigster Theaterautor. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Textgebirgen ist die „Imaginäre Operette“ ein kleines, lyrisches Sprachlabyrinth.

In einem Gemisch aus gesprochenen und gesungenen Passagen spielt Novarina mit all den Klischees von Liebe, Schmerz und Tod, die für gewöhnlich in der Operette verhandelt werden, bricht sie ironisch und treibt wahnwitzige Sprachspiele, die im Gegensatz zum leichtgängigen Genre stehen. Einer der Protagonisten etwa entpuppt sich als der obligate verhinderte Literat, dessen erstes Lesen aus dem neuen Roman zur Wahnsinnstour gerät: Mit jedem Satz wird eine neue Figur eingeführt und ein weiteres kleines persönliches Drama thematisiert, während dessen das restliche Operettenpersonal verständnislos und fasziniert zugleich dem delirierenden Schriftsteller zuhört.

Claude Buchvalds hervorragende Inszenierung nach Deutschland zu holen ist eine glückliche Entscheidung. Man würde wünschen, daß deutscheTheater sich überhaupt stärker um Entwicklungen im französischen Theater kümmerten. Avignon hat in diesem Jahr vorgemacht, wie das in anderer Richtung funktioniert, und in einem Themenschwerpunkt Arbeiten des neuen Schaubühnen-Teams Thomas Ostermeier und Sasha Waltz vorgestellt.