Kamele als Vorhut im Minenfeld

■  Kämpfe in Afghanistan fordern erneut Todesopfer. Taliban wollen mit neuer Offensive nördliche Landesteile unter ihre Kontrolle bringen. UNO stellt Hilfsflüge ein. Nachbarländer liefern weiter Waffen an Kriegsparteien

Berlin (taz) – Mindestens zwei Menschen wurden gestern getötet, als eine Luna-Rakete sowjetischer Bauart in einem Wohngebiet nahe des Flughafens der afghanischen Hauptstadt Kabul einschlug. Die Zahl der Verletzten wurde mit fünf angegeben. Der Angriff ist Teil der heftigsten Kämpfe seit zehn Monaten in Afghanistan.

Gleichzeitig setzte die UNO ihre Hilfsflüge nach Kabul aus. Bereits am Dienstag mußten eines ihrer Flugzeuge sowie Maschinen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und anderer Hilfsorganisationen den Landeanflug auf die Stadt wegen des Beschusses abbrechen. Gemäß einer Abmachung mit beiden Konfliktparteien, den Taliban und der gegnerischen Nordallianz unter Führung von Ahmad Schah Massud, dürfen dienstags, donnerstags und sonntags zwischen 9 und 10 Uhr Hilfsflüge unbehelligt landen. Diese Vereinbarung wurde gebrochen.

Vorausgegangen war eine massive Taliban-Offensive gegen Stellungen der Nordallianz. An drei Stellen nördlich und nordöstlich Kabuls, zwischen 25 und 70 Kilometer von der Stadt entfernt, griffen sie die Südflanke der Massud-Truppen an, die noch zwischen 10 und 20 Prozent des Landes kontrollieren und sich im Panjschir-Tal verschanzt haben. Die Taliban erzielten einige Geländegewinne, die bisher aber nicht von wesentlicher Bedeutung sind.

Noch liegt die flache und stark verminte Schimali-Ebene vor ihnen. Daß die Taliban sie durchqueren und die noch fehlenden Landesteile erobern wollen, belegen Agenturberichte: Ihnen zufolge kaufen die von Pakistan unterstützten Krieger derzeit alles auf, was vier Beine hat – Schafe, Ziegen, Kamele. Jedoch nicht als Proviant, sondern um sie vor den Truppen durch die Minenfelder zu treiben. Gleichzeitig bombardieren sie die Linien der Massud-Leute, die sich mit Raketenattakken auf den Kabuler Flughafen wehren, der aus einem militärischen und einem zivilen Teil besteht.

Die 15.000 Taliban-Kämpfer werden bei ihrem Vorstoß Berichten zufolge von „Tausenden“ Freiwilliger aus Pakistan und „Hunderten“ Araber unterstützt. Darunter seien zahlreiche Anhänger des in den USA zu den meistgesuchten zehn Verbrechern gehörenden Islamistenführers Usama bin Laden, der für die blutigen Bombenanschläge auf die US-Botschaften von Nairobi und Daressalam im August 1998 verantwortlich gemacht wird.

Nachdem in der vergangenen Woche in der usbekischen Hauptstadt Taschkent ein erneuter Anlauf der UNO gescheitert war, zwischen den Taliban und ihren Gegnern zu vermitteln, blieb dem Weltsicherheitsrat in der Nacht zum Donnerstag nichts übrig, als „große Besorgnis“ über die Kämpfe zu äußern. Immerhin verzichtete man auf Ausgewogenheit und gab den Taliban die Schuld für den Ausbruch der Kämpfe.

Die liegt aber auch bei den Nachbarländern Afghanistans, vor allem Pakistan, Iran und Usbekistan. Die hatten sich in Taschkent verpflichtet, den verfeindeten afghanischen Kriegsherren keine militärische Hilfe mehr zu leisten. Doch der UN-Sondergesandte für Afghanistan, der Algerier Lakhdar Brahimi, mußte erst letzte Woche wieder feststellen, daß von dort erneut Waffen in das Land gelangten. Thomas Ruttig