Jeder kriegt sein Fett weg

Die meisten Menschen, Frauen wie Männer, hadern mit ihrem Äußeren – obwohl sie mehr und mehr Zeit und Geld darauf verwenden, sich sportlich oder kosmetisch zu trimmen und zu pflegen. Aus dieser „postmodernen Ambivalenz“ gibt es nur einen Ausweg: die Erkenntnis, daß Schönheit nicht für mehr Glück und Selbstvertrauen sorgt. Vielmehr ist es andersherum: Glücklichere Menschen nehmen sich selbst als schöner wahr.  ■ Von Barbara Dribbusch

Jaime Cantalupo hat lange schwarze Locken, große dunkle Augen und läuft mit einem Schild um den Hals durch die Straßen New Yorks. I'm ugly: Stare at my face steht darauf zu lesen – Schaut in mein Gesicht: Ich bin häßlich. Sie klagt: „An meinem Gesicht mißfällt mir, daß es keine Tiefe hat.“ Die Spaziergänge mit dem Schild gehören zu ihrer Therapie. Jaime würde sich am liebsten verstecken.

Jaime leidet unter Body Dysmorphic Disorder (BDD), einer Zwangserkrankung, die in den USA intensiv erforscht wird. Als krank gelten Menschen, die ihr Gesicht, ihre Nase, ihr Kinn oder einen anderen Körperteil als häßlich empfinden, obwohl es sich objektiv höchstens um kleine Abweichungen vom herrschenden Schönheitsideal handelt. Vielleicht hätten diese Zwangskranken früher andere Symptome entwickelt. Aber „in einer Welt, die Schönheit so betont, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Fixierung auf einen eingebildeten körperlichen Defekt richtet“, erklärt Jaimes Therapeutin Fugen Neziroglu.

Etwas vom BDD steckt in vielen Menschen. „In unserer Gesellschaft hat Schönheit einen höheren Stellenwert denn je, und zwar für alle“, sagt Neziroglu. Für diesen Narzißmus zahlen viele einen Preis: Nach einer jüngeren Studie der US-Wissenschaftler Alan Feingold und Ronald Mazzella hadern immer mehr Menschen mit ihrem Äußeren.

Die Forscher werteten 222 Studien aus den vergangenen fünfzig Jahren aus, in denen Versuchspersonen aus der ganzen Welt Angaben zu ihrem Körperbild machten. Fazit: Seit den siebziger Jahren steigt die Zahl der Menschen, die besser aussehen möchten. Männer hatten noch am ehesten ein einigermaßen positives Körperbild. Frauen jedoch finden sich immer öfter zu dick, ihren Busen zu klein oder die Haare zu dünn.

Dabei hatten noch nie zuvor so viele Bürger in den westlichen Ländern so gute Möglichkeiten, ihren Körper zu pflegen, zu verschönern und zu erhalten. Nur noch eine Minderheit muß harte körperliche Arbeit leisten. Viele haben genug freie Zeit für sportliche Aktivitäten. Schönheitschirurgen rechnen in Deutschland mit dreihunderttausend kosmetischen Operationen in diesem Jahr.

Alle dürfen schön sein, besser: Alle müssen auch schön sein. Vielleicht ist das die wichtigste der „postmodernen moralischen Ambivalenzen“, wie sie der Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt. Die Chancen für mehr Schönheit stehen so gut wie nie zuvor, aber zugleich wächst die Gefahr, sich als zu dick, zu alt, zu häßlich zu fühlen. Das eigene Körperfett und die Zerfallsspuren der Haut werden zum Feind in einem persönlichen Krieg. Und der läßt vom Lustvollen an der Schönheitspflege kaum etwas übrig.

Im Unterrichtsmaterial zum Thema „Schönheit“, das die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) für SchülerInnen entwickelt hat, finden sich Tips, die die Teenager an den Badezimmerspiegel heften sollen: „Sei gelassen und finde dich schön – nichts macht so häßlich wie die Jagd nach der Schönheit!“ Oder: „Akzeptier dich einfach so, wie Du bist – lieber ein gutes Original als eine schlechte Kopie.“ Aber das ist leichter formuliert als geglaubt: Jeder will lieber eine schöne Kopie sein als ein häßliches Original.

Der moralische Diskurs der „inneren Werte“ gehörte immer zur Schönheitssucht dazu – nicht zuletzt deshalb, weil nichts so ungerecht verteilt ist wie körperliche Attraktivität. Doch Moralisieren hilft nichts – auch Alkoholiker verdammen sich selbst immer wieder für ihre Sucht und greifen dann um so gieriger zur Flasche. Wer der Schönheitssucht die „inneren Werte“ entgegenhält oder sie als „Opium“ für die weiblichen Massen verurteilt, setzt sich nur dem Verdacht aus, eben nicht zu den Attraktiven zu gehören. So wie in den siebziger Jahren jeder als spießig galt, der es wagte, Sex als „eher unwichtig“ zu bezeichnen.

Die US-Psychologin Nancy Etcoff versucht in ihrem Buch „Survival of the Prettiest“ nachzuweisen, daß das Streben nach Schönheit ein „Basisinstinkt“ sei, naturgemäß viel stärker als alle Ideologien, die ihn verurteilen. Wissenschaftlich untersucht, kommt der mächtige Instinkt allerdings recht flach daher: Wenig überraschend ist das von Etcoff vorgestellte Ergebnis, nach dem Babys Fotos von symmetrischen Gesichtern bevorzugen und Männern schönen Frauen eher beim Reifenwechsel oder beim Umzug helfen. (Interessanterweise aber zögerten die Männer, schönen Frauen Geld zu borgen.)

In ihrem Schönheitsdarwinismus widerspricht Etcoff der Feministin Naomi Wolf, die Anfang der neunziger Jahre die Schönheit nur als eine Art „Währung“ in einem patriarchalen Tauschsystem bezeichnete – eine, die über den Wert der Frauen entscheidet und damit das entscheidende Unterdrückungsinstrument der Männer darstellt. Diese These hat viel für sich: Nach Feingold und Mazzella hadern besonders jüngere Mädchen mit ihrem Aussehen Probleme, weil die Tatsache, ob sie dick oder schlank sind, darüber entscheidet, wie viele Dates mit Männern sie bekommen. Ältere Frauen wiederum, die sich liften lassen, hatten oft eine Scheidung hinter sich, arbeiteten in einem jugendorientierten Job oder hatten zuvor einen jüngeren Partner kennengelernt. Wo alte soziale Bindungen und Hierarchien zerfallen, etablieren sich neue Tauschsysteme – kein Wunder, daß die äußere Erscheinung, der öffentlichste Teil der Persönlichkeit, immer mehr zählt. Wir tragen unsere Haut buchstäblich jeden Tag zu Markte.

In einer visuell orientierten Welt verbreitert sich dabei die Kluft zwischen Schönheitsidealen und Wirklichkeit: In wenigen Jahrzehnten wird in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung über vierzig sein. Nach wie vor sind viele Deutsche übergewichtig. Doch visuell überschwemmt werden die Konsumenten mit Bildern von jungen, dünnen Menschen, die allesamt symmetrische Gesichter aufweisen: „Es gibt drei Milliarden Frauen in der Welt, die nicht wie Supermodels aussehen, und nur acht, die so aussehen“, lautete eine Kampagne des Kosmetikkonzerns Body Shop für mehr Mut zur individuellen Optik.

Einfach nur ein bißchen Realitätsprinzip in die Werbung einzuschmuggeln, scheint keine Lösung zu sein: Mit großem Medienhallo (“Die Älteren kommen!“) wird zwar ab und zu ein älteres Model für Creme oder Mode vorgestellt, doch meist bevölkern wie eh und je Bilder von blassen Siebzehnjährigen mit Madonnengesichtern seitenweise die Magazine. Der Vergötterung des Unverbrauchten ist offenbar nur schwer beizukommen.

Doch jeder kriegt sein Fett weg – und irgendwann sehen alle ganz schön alt aus: Auch die Schönen enden als schöne Ruinen. Vielleicht ist es die künftige kollektive Hausaufgabe in einer alternden Gesellschaft, sich mit dem körperlichen Verfall ästhetisch und politisch auseinanderzusetzen. Ob irgendwer Lust hat, diese Hausaufgabe wirklich zu machen, ist eine andere Frage. Touristikunternehmen jedenfalls bieten inzwischen billige Faceliftingreisen nach Polen an.

Gegen Wahn hilft manchmal ein anderer Wahn: das Lob der Häßlichkeit. In der Selbsthilfegruppe „The Pinocchio Plot“ wirbt deren Gründerin Lynn Romer aus dem US-Bundesstaat Utah: „Wir glauben, daß es genauso akzeptabel ist, körperlich unattraktiv zu sein, wie durchschnittlich oder großartig auszusehen.“ Romer wurde seit ihrer Kindheit wegen ihrer langen Nase gehänselt. Die Pinocchio Plotter laufen auf Demos mit langen Pappnasen herum. So weit muß man es nicht treiben. Aber Romer trifft einen Punkt: Wer sich selbst schätzt, hat kein Schönheitsproblem.

In der Tat: Studien der Psychologen Ed Diener und David Myers weisen darauf hin, daß die Schönen nicht glücklicher sind als andere. Sie verfügen weder über tiefere Freundschaften, liebevollere Partnerschaften, befriedigendere Jobs oder ein höheres Selbstwertgefühl – also jene Attribute, die nachweislich entscheidend sind für persönliches Glück. Auch sind jüngere Menschen keineswegs glücklicher als ältere. Models, die sich mit noch schöneren Models vergleichen, erleben heftige Schwankungen in ihrem Selbstwertgefühl. Schöne werden oft mehr beneidet als geliebt. Nicht zuletzt erzeugt gerade die Vergänglichkeit der Schönheit bei den Attraktiven stete Verlustängste.

Wer selbst für sein eigenes Glück sorgen kann, hat hingegen ein buchstäblich schöneres Leben – trotz Fettpolstern, dünnem Haar und Falten. „Es scheint plausibel zu sein, daß glückliche Menschen dazu neigen, sich selbst als attraktiver anzusehen, als objektive Bewertungen vielleicht ergeben würden“, erklärt Diener. Wer in der Kindheit ein hohes Selbstwertgefühl mitbekommen hat, ist fester verwurzelt im Leben als jemand, der sein Selbstwertgefühl immer nur an der Oberfläche verankern muß.

Hauptleidtragende der Schönheitssucht sind die Frauen. Das Problem, so Etcoff, sei nicht die Tatsache, daß die Frauen die Schönheit so pflegten, sondern vielmehr, daß sie oft nicht die Gelegenheit bekämen, ihre anderen Eigenschaften, Begabungen und Interessen zu kultivieren. Interessen, die sich beispielsweise mehr auf die Schönheit der Umwelt richten als auf die eigene. Doch dies erinnert schon wieder verdächtig an die moralische Antischönheitsdebatte früherer Zeiten. Am besten hilft noch der nüchterne Rundumblick morgens in der U- Bahn: Die meisten sehen auch nicht besser aus. Also: Bloß keine Panik.

Barbara Dribbusch, 42, Autorin der taz seit vielen Jahren meist bei Sozialthemen, läßt sich in puncto Schönheit längst nicht mehr verunsichern.