Das Befremden der urbanen Gabi

■ In Arnold Stadlers neuem Roman findet sich auch in der Erinnerung keine Heimat mehr

Arnold Stadler wirft auch den Helden seines jüngsten Buches aus allen bürgerlichen Bahnen. Es geschieht durch jenen „hinreissenden Schrotthändler“, der eines Tages in Adidas-Hose vor der Haustür des Ich-Erzählers, eines frühpensionierten Geschichtslehrers, steht und, einmal hineingebeten, nicht mehr verschwindet. Da steht er nun: Gewinner des „Arsch des Jahres Contests“ und ein veritabler Adonis. Kurz: der Alptraum jedes saturierten Mittvierzigers.

Gabi, die hanseatische Handchirurgin, und ihr naiv-gutmütiger oberschwäbischer Gatte verfallen gleichermaßen der kaum faßbaren Erotik dieses Fremden, der als Titelfigur seltsam konturenlos bleibt: Ein austauschbarer Spaltpilz, die notwendige novellistische Wendung ins Fatale, das schon seit 25 Jahren hinter dieser „Ehe auf Sandwichbasis“ lauert.

Zu dritt fahren sie nach Überlingen, wo das ungleiche Paar einst mit großem Aplomb Hochzeit hielt und wo nicht zufällig auch Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ spielt. Während in Walsers Novelle Schuberts Wandererphantasie eine akute Ehekrise intoniert, vermag es Stadlers Held, den Komponisten Wolfgang Rihm zur Vertonung seines ländlichen Vorlebens, zu einem „Requiem auf Kreenheinstetten“ anzuregen – sehr zum Befremden der urbanen Gabi. Keine Chance für einen Neubeginn. Vom „hinreissenden Schrotthändler“ aufs ärgste gedemütigt, von seiner Frau verlassen, flieht der Erzähler aus Köln in eben jenes Kreenheinstetten, wo er als Ururururgroßneffe des Barockpredigers Abraham a Santa Clara im Gasthof zur „Traube“ das Licht der Welt erblickte.

Die Suche nach der verlorenen Zeit mündet indes in der Gewißheit, daß selbst die Erinnerung keine Heimat mehr spendet. So ist auch der Anlaß der Reise nur eine Trauerfeier: „Nichts bleibt.“ Nicht mal der Geländewagen. In den mit Skurrilitäten gespickten Bildern des erinnerten Landlebens und deren Konfrontation mit der nicht weniger skurrilen, gründlich desillusionierenden dörflichen Gegenwart liegt seit jeher Arnold Stadlers Bravour.

Daß sein Held aber aus der schlimmsten Misere nach Acapulco fliehen und dort zu jener ironischen Gelassenheit finden kann, die überhaupt erst das Erzählen ermöglicht, ist jedoch eine allzu unwahrscheinliche Wendung. Der typische Stadler-Ton macht die Lektüre dieses reichlich disparaten Romans – weit eher eine Novelle – trotzdem zum Genuß: dieser Wechsel zwischen weitschweifigem Parlando mit Bernhardschen Anklängen und messerscharfen, meist paradoxen Sentenzen, dieser immer wieder glückende Drahtseilakt zwischen Nonsens und Trauer, beklemmender Fatalität und entfesselndem Lachen.

Das Leben ist diesem Autor eine trostlose Tragikomödie; sein verborgenes und dennoch stets spürbares Leiden an der Unerbittlichkeit der Zeit, der Unerreichbarkeit des Unbedingten, der Liebe etwa, ist einzig im Zerrspiegel der Groteske zu ertragen: „Nichts läßt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein.“

Stadlers skurriler, im Grunde philanthropischer Humor vermag aber auch den Leser hinauszutragen über diese „Schmerzensseite des Lebens“. Wer das einmal erfahren hat, möchte Arnold Stadlers Bücher nicht mehr missen.

Stefan Tolksdorf ‚/B‘ Arnold Stadler: „Ein hinreissender Schrotthändler“. DuMont. 238 S. 39,80 DM