Sierra Leones langer Weg zum Frieden

Acht Jahre Bürgerkrieg haben Sierra Leone schwer gezeichnet. Das Friedensabkommen von Lomé könnte ein Neuanfang sein. Auf Kritik stößt, daß die Kämpfer straffrei ausgehen sollen  ■   Aus Freetown Hermann Kranzl und Stefan Hegelüken

Samra Kamara (Name geändert) kann es noch immer nicht begreifen. Wann immer sie über die Ereignisse vom Januar 1999 erzählt, bricht sie in Tränen aus. Rebellen brachen in ihr Haus im Ostteil Freetowns ein und schossen auf ihren Sohn. Nachbarn wollten den schwerverletzten Jungen ins Krankenhaus bringen, seine Mutter flehte und bettelte, doch das ließen die Rebellen nicht zu. Der 8jährige verblutete.

Sechs Monate nach der letzten großen Offensive der RUF-Rebellen (Revolutionary United Front), während derer sie am 6. Januar 1999 in Freetown eindrangen und mehr als zwei Drittel der Stadt unter ihre Kontrolle brachten, zeugen die Spuren der Zerstörung vom Leiden der Einwohner. Die Gebäude des Flugfeldes in Hastings, östlich von Freetown, sind weitgehend zerstört. Auf dem Gelände liegen noch Wracks einiger ausgebrannter Propellermaschinen.

Die östlichen Vororte der Hauptstadt – Calaba-Town, Wellington, Kissy – sind von einem Feuersturm heimgesucht worden. Ganze Wohnviertel entlang der alten Straße ins Zentrum sind von den Rebellen vollständig verwüstet worden. Zwischen den Ruinen der niedergebrannten Häuser stapeln sich die Wracks ausgebrannter Autos, darunter auch viele UN-Fahrzeuge, die von den Rebellen geraubt worden waren.

Insgesamt sind 5.800 Privathäuser sowie Schulen, Gesundheitseinrichtungen, öffentliche Gebäude und religiöse Einrichtungen niedergebrannt worden. Scätzungsweise 230.000 Menschen sind innerhalb der Stadt vertrieben worden, vor allem aus dem Ostteil, und leben in Notunterkünften.

Schwerer als die Zerstörungen jedoch wiegen die mehr als 6.000 Todesopfer und Tausenden von Verwundeten alleine in Freetown, darunter viele Verstümmelte, sowie das unbeschreibliche Leid vergewaltigter Mädchen und Frauen und entführter Kinder.

Eine halbe Millionen Sierra Leonis lebt als Flüchtlinge in den Nachbarländern Guinea und Liberia. Die Zahl der im Land selbst Vertriebenen beträgt eine Million Menschen. Über 3.000 Dörfer und Städte sind teilweise oder ganz verwüstet. 1.700 Schulen und 400 Gesundheitseinrichtungen sowie andere öffentliche Gebäude und Infrastruktureinrichtungen sind zerstört. Die landwirtschaftliche Produktion ist stark gesunken, die natürlichen Ressourcen – Diamanten und Bodenschätze – können nicht genutzt werden.

Im kürzlich veröffentlichten „UN-Report on Human Resources and Development“, der 173 Länder erfaßt, liegt Sierra Leone auf dem letzten Platz. Die Kriegsmüdigkeit mündete Ende Mai 1999 in eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der Regierung und den RUF-Rebellen. Am 7. Juli 1999 wurde das Friedensabkommen in Lomé (Togo) von Präsident Ahmad T. Kabbah und RUF-Führer Foday Sankoh sowie den Präsidenten von Togo, Nigeria, Burkina Faso und Liberia unterzeichnet.

Das Abkommen sieht eine Machtbeteiligung der RUF vor, die in einer Übergangsregierung vier Minister und vier stellvertretende Minister stellen wird. Der Rebellenführer Sankoh wird Vorsitzender der „Kommission für natürliche Ressourcen, Wiederaufbau und Entwicklung“.

Die RUF wird sich in eine politische Partei umwandeln und an den nächstenParlaments- und Präsidentenwahlen teilnehmen.

Das Abkommen beinhaltet die Entwaffnung der RUF-Rebellen sowie der Stammesmilizen, die auf Regierungsseite gekämpft haben, und die Bildung einer neuen sierraleonischen Armee. Die westafrikanische Eingreiftruppe Ecomog wird schrittweise abgezogen. Die Rolle der UN-Beobachtermission Unomsil soll ausgeweitet werden und bei der Entwaffnung zentral mitwirken. Für alle Ex-Kämpfer soll es, mit internationaler Unterstützung, Reintegrationsprogramme geben.

Darüber hinaus gilt für alle ehemaligen Kämpfer eine absolute Amnestie, auch für jene, die schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben. Diese Amnestie hat scharfe Kritik ausgelöst. Dennoch erscheint sie, um den Krieg zu beenden, unumgänglich. Zur Aufarbeitung der Verbrechen sieht das Abkommen eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild vor.

Doch wer ist Opfer, wer Täter in diesem Konflikt? Ist das in die Milizen gepreßte Kind ein Täter?

Die Nachricht von der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat in Sierra Leone Erleichterung ausgelöst, aber keine Euphorie. Die Menschen sind vorsichtig, nicht zuletzt, weil es für die Umsetzung des Abkommens noch Unwägbarkeiten gibt.

Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung. Das Lomé-Abkommen vom Juli 1999 hat die Unterstützung aller westafrikanischer Staaten sowie der internationalen Gemeinschaft und beinhaltet auch Mechanismen zur Überwachung der Durchführung seitens der Ecowas (politischer Zusammenschluß der westafrikanischen Staaten), der UN und einer noch einzurichtenden Kommission.

Von seiten Sankohs, des Führers der Rebellen, und anderer hochrangiger Führer der RUF gibt es deutliche Zeichen, daß sie die Vereinbarung einhalten wollen. Das Parlament in Freetown hat das Abkommen ratifiziert.

Vereinzelt kehren ehemalige Rebellen, die nicht bis zum offiziellen Beginn der Entwaffnung am 18. August 1999 warten wollen, nach Freetown zurück. Für ihre Registrierung und die Aufnahme in das Reintegrationsprogramm wurden Büros eingerichtet.

Das Friedensabkommen hat die Grundlage für den Wiederaufbau Sierra Leones geschaffen. Doch Zweifel bleiben. Auch bei Samra Kamara, die nach acht Jahren Bürgerkrieg nichts mehr wünscht als Frieden für sich und ihre Familie.