Ausnahmezustand am Alexanderplatz

■  Beim ersten verkaufsoffenen Sonntag ging es am Alex ein bisschen zu wie beim Mauerfall: 50.000 kamen, Nur Protestierern wurde Hausverbot erteilt. Zwangsgeld für Kaufhof

Was sich gestern am Alexanderplatz abspielte, glich einer vorgezogenen Zehnjahresfeier zum Mauerfall. Als hätten tausende Ostberliner erst gestern gemerkt, dass sie außer Bananen auch günstig City-Kurzarmhemden kaufen können, stürmten sie Beifall klatschend um Punkt 12 Uhr den Kaufhof. Alle wollten dabei sein, als das größte Warenhaus Ostberlins die vom Senat genehmigten Wochenendöffnungszeiten in touristischen Gebieten „für Artikel des touristischen Bedarfs“ mit einem Trick umging. Alle Artikel, vom Handtuch über Kerzen bis zu Klarsichtfolien, bekamen einen Aufkleber „Berlin Souvenir“ verpasst.

Selbst die Installation eines Lichtkünstlers wenige Meter entfernt, deren Effekte „die Passanten mitten in ihrem Lauf stoppen“ soll, war machtlos. In Windeseile waren die Rolltreppen geentert und die Grabbeltische belagert. Weil sich vor den Umkleidekabinen meterlange Schlangen bildeten, zogen sich immer mehr Kaufwütige zwischen den Kleiderständern um. Dass die eine oder andere Verkäuferin nicht vom Fach war und gelegentlich die Auskunft „keine Ahnung“ zu hören war, störte niemand. Im Gegenteil. „Na ja, die sind bestimmt eingesprungen“, sagte ein Mann und machte sich selbst auf die Suche nach der richtigen Größe für die Jeans. Der einschlagende Erfolg des offenen Sonntags, den der Kaufhof als „Flächenbrand“ angekündigt hatte, stieg dem einen oder anderen Käufer angesichts der vielen Fernseh- und Radiosender derart zu Kopf, dass sich einer weigerte, „ohne Kamera mit weltweiter Übertragung“ auch nur ein Wort zu sagen.

Andere zwängten sich lustlos durch die vollen Gänge. „Das ist doch alles Blödsinn“, sagte ein Mann, „am Sonntag hat auch Gott geruht.“ Er sei nur „aus Langeweile“ gekommen. Weil seine Frau unpässlich sei, hätten sie nicht baden gehen können. Eine Frau, die gerade in London im Urlaub war, zeigte sich hingegen begeistert, nun auch endlich in der Heimat sonntags shoppen zu können. Bereits eine Stunde nach Öffnung sagte ein Wachschützer: „Das ist mehr als unter der Woche.“

Doch nicht alle waren willkommen im Konsumparadies: „Für Beteiligte von Protestaktionen besteht Hausverbot“, stand an den Eingangstüren. Nachdem die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) Proteste angekündigt hatte, war der Kaufhof vor Gericht gezogen. Das Landgericht untersagte der HBV per einstweilige Verfügung einen „Protestspaziergang“ auf dem Grundstück des Warenhauses. So begnügten sich die Gewerkschafter auf einen Stand, wenige Meter vom Tatort entfernt. Dort demonstrierten mehrere Dutzend mit Plakaten wie „Kein Ladenschluss - Kevin allein zu Haus“. Weil der HBV gerichtlich auch untersagt wurde, weitere Aufrufe zu verbreiten, in denen die Sonntagsöffnung als „kriminelle Brandstiftung“ bezeichnet oder auf „Verlotterung von Sitte, Anstand, Moral und Gesetzestreue“ zurückgeführt wird, hieß es schlicht „Ladenschluss erhalten“.

Das einzige blaue Auge, das dem Warenhaus gestern verpasst wurde, stammte vom Landesamt für Arbeitsschutz, das ein Zwangsgeld von 50.000 Mark verhängte, weil unerlaubterweise Artikel angeboten worden seien, die nicht dem touristischen Bedarf entsprächen. Eine Ladenschließung droht dem Kaufhof, der auch nächsten Sonntag öffnen will, jedoch nicht. Eine Haltung, die die Protestierer nicht verstehen. „Wenn jemand ankündigt, dreimal sonntags bei Rot über die Ampel zu gehen, ist er auch gleich die Pappe los“, ärgerte sich einer. Auch die Argumentation des Kaufhofs, 120 neue Arbeitsplätze zu schaffen und alle Teilzeitkräfte auf Vollzeit umzustellen, findet er absurd. „Was nützt das, wenn rundherum 500 Arbeitsplätze kaputtgehen?“

Solche Kritik focht den Kaufhof-Geschäftsführer, der seinen gestrigen Auftritt in vollen Zügen genoss, nicht an. „Die Gerichtsentscheidung ist eine Entscheidung pro Innenstadt“, jubelte Günter Biere. „Das ist, was wir wollen, dass die Richter sagen, was richtig und was falsch ist.“ Biere erwartete für die gestrigen fünf Stunden den gleichen Umsatz wie an einem normalen Werktag.

Unter den Kunden waren neben zahlreichen Mitarbeitern des Landesamtes für Arbeitsschutz auch der ein oder andere Prominente, wenn man die FDP noch dazu rechnen kann. Die hatten ihren Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl, Rolf-Peter Lange, ins Gewühl geschickt. Zu seinem Satz „Der Ladenschluss muss weg“ hielt er demonstrativ sein „Berlin Souvenir“, ein Paar schwarze Kurzsocken, in die Höhe. Genüsslich zitierte er die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, nach der die Schließung eines Tabakladens am Potsdamer Platz, der schon vor der Senatsentscheidung sonntags geöffnet hatte, rechtswidrig war, weil das Ladenschlussgesetz „völlig aus dem Ruder gelaufen“ sei. B. Bollwahn de Paez Casanova

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