■  500 Tote und über 1.000 Verletzte sind nach einem Zugunglück in Indien zu befürchten. Unfälle vergleichbarer Größe sind dort als Folge des völlig überforderten Verkehrssystems nicht selten
: Die alltägliche Katastrophe

Bei einem der schwersten Zugunglücke der vergangenen Jahre sind in der Nacht zu gestern im ostindischen Bundesstaat Westbengalen nach Behördenanschätzungen möglicherweise bis zu 500 Menschen ums Leben gekommen. Die Nachrichtenagentur PTI meldete, es seien sogar mehr als 500 Tote und 1.000 Verletzte zu befürchten. Bis gestern abend hatten die Behörden am Unfallort bereits die Zahl von 200 Todesopfern bestätigt, während die Regierung in Delhi noch von 120 Toten sprach.

Da mehrere Waggons nach dem Zusammenprall Feuer gefangen hatten, mussten laut PTI mehrere hundert Passagiere mit teilweise schweren Verbrennungen in vier Krankenhäuser der völlig ablegenen und auf Katastrophen dieses Ausmaßes überhaupt nicht vorbereiteten Region gebracht werden. Die nächsten großen Städte Kalkutta und Gauhati sind mit dem Auto 14 Stunden entfernt. Auch Stunden nach dem Unglück waren die Rettungskräfte, bei denen es sich meist um Soldaten handelte, noch mit der Suche nach weiteren Opfern in den völlig ineinander verkeilten Zügen beschäftigt.

Das Unglück ereignete sich, als frühmorgens gegen 1.30 Uhr Ortszeit (22 Uhr MESZ am Sonntag) im Bahnhof des Ortes Gaisal – 500 Kilometer nördlich der Landeshauptstadt Kalkutta – zwei Züge frontal zusammenstießen. Die beiden Züge seien vermutlich durch ein falsch gestelltes Signal auf dasselbe Gleis geleitet worden, sagte ein Sprecher der indischen Eisenbahngesellschaft gegenüber der britischen BBC. Einer der beiden Züge war der 5610-Up-Awadh-Assam-Expresszug, der in Richtung Assam unterwegs war und im Bahnhof gehalten hatte. Bei dem anderen Zug handelte es sich um den 4055-Dn-Brahmaputra-Postzug, in dem auch viele Passagiere saßen – hauptsächlich Soldaten und Angehörige der Grenztruppen. Der in Richtung Delhi fahrende Postzug stieß im Bahnhof frontal mit dem dort haltenden Expresszug zusammen. „Es war wie ein Alptraum. Es war vollkommen dunkel, und es klang wie eine Explosion“, zitiert der Fernsehsender CNN einen verletzten Passagier, der aus einem Wagen geborgen worden war, der bei dem Crash hoch- und dann auf einen Wagen des stehenden Zugs geschleudert worden war.

Zunächst war ein Bombenanschlag vermutet worden, da in der Region separatistische Gruppen bereits mehrfach Anschläge verübt hatten. Spätere Berichte, in einem der Züge seien explosive Materialien gewesen, konnten die Behörden zunächst nicht bestätigen, doch konnten Vermutungen auch nicht ausgeschlossen werden, dass einige der Soldaten Munition transportierten. Nach Behördenangaben entstand der starke Knall vermutlich beim Zusammenstoß der Lokomotiven. Dabei wurde die Lok des Assam-Expresszuges durch die Luft geschleudert und landete PTI zufolge auf einem Nebengleis. Insgesamt waren zwölf Wagen der beiden Züge völlig ineinander verkeilt. Einige brannten völlig aus. Die meisten der insgesamt etwa 2.500 Fahrgäste in beiden Zügen wurden von dem Unglück im Schlaf überrascht.

Die Identifizierung der Opfer dürfte wie bei ähnlichen Katastrophen in der Vergangenheit schwierig werden, da vermutlich viele Fahrgäste, die nur kurze Strecken zurücklegen wollten, keine Fahrkarten hatten.

Da es in Indien in den vergangenen 15 Jahren 31 größere Zugunglücke gab, veröffentlicht die indische Eisenbahngesellschaft auf ihre Homepage im Internet sogar die Bestimmungen für die Entschädigung von Opfern. Im Todesfall oder bei dauerhafter Schwerbeschädigung werden pro Opfer umgerechnet 16.000 Mark gezahlt. Als Sofortzahlung gibt es allerdings nur 670 Mark im Todesfall und etwa 200 bei schweren Verletzungen. Sven Hansen