Puppenspiele allein gelten nicht als Beweis

■ In der Arbeit mit missbrauchten Kindern können anatomische Puppen weiter eingesetzt werden, letztlich zählt aber die Aussage des Kindes. Suggestivkraft der Puppen umstritten

Freiburg (taz) – Ein sexuell missbrauchtes Kind soll reden, nicht spielen. Diesen Schluss könnte man aus einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zu Glaubwürdigkeitsgutachten in Missbrauchsprozessen ziehen. Der Ausdeutung von Spielszenen mit „anatomischen Puppen“ komme bei derartigen Gutachten „keine Bedeutung“ zu, heißt es in derGrundsatzentscheidung, die Mindeststandards für die Erstellung solcher Gutachten festlegt.

Als „anatomische Puppen“ werden Stoffpuppen bezeichnet, die mit wirklichkeitsnah dargestellten Sexualorganen ausgestattet sind. Weibliche Puppen haben eine Scheide, männliche einen Penis. Eine erwachsene Puppe ist 55 Zentimeter groß, eine vierköpfige „Stoffpuppenfamilie“ kostet 720 Mark. Ursprünglich wurden die aus den USA kommenden „Spielfiguren“ in der Sexualpädagogik eingesetzt. Daher rührt auch ihr Name „Teach-a-bodies“.

In Deutschland wurden die Puppen von vornherein bei (möglicherweise) missbrauchten Kindern eingesetzt. Marion Mebes, Mitbegründerin der Hilfsorganisation Wildwasser, führt heute den Donna-Vita-Fachhandel für Therapiebedarf, Marktführer in Deutschland für die anatomischen Puppen. Sie beschreibt die Anwendung der Puppen so: „Zum einen soll den Kindern signalisiert werden, dass hier über sexuelle Dinge offen gesprochen werden kann, die Puppen wirken dabei wie eine Art Eisbrecher. Zum anderen können die Kinder an den Puppen Handlungen demonstrieren, die sie verbal nicht beschreiben können und wollen.“

In die Kritik kamen die anatomischen Puppen vor allem, weil sie in der Beratungspraxis teilweise überschätzt wurden. Oft wurden sie geradezu als eine Art Testverfahren für das Vorliegen sexuellen Missbrauchs benutzt. Dahinter stand die Annahme, dass kleine Kinder so gut wie kein Wissen über sexuelle Praktiken haben können. Deshalb sah man es bereits als Indiz für sexuellen Missbrauch, wenn Kinder im freien Spiel mit den Puppen sexuelle Szenen nachstellten. Allerdings, so belegen amerikanische Studien, sind auch bei (vermutlich) nicht-missbrauchten Kindern solche sexualisierten Puppenspiele kaum weniger häufig zu beobachten. „Es gibt keine wissenschaftlich anerkannten Regeln für die Deutung solcher Puppenspiele“, erklärt der Berliner Psychologieprofessor Max Steller.

Ein anderer Kritikpunkt lautete, die Puppen seien „materialisierte Suggestion“, so der Kölner Psychologe Udo Undeutsch. Das hält Steller allerdings für überzogen: „Das Problem sind nicht die Puppen selbst, sondern dass sie teilweise suggestiv angewendet werden.“

Experten hatten gehofft, dass missbrauchte Kinder mit Hilfe der Puppen eigene Erlebnisse ausdrücken können, auch wenn sie unter einem „Schweigegebot“ des Täters stehen. Die Gefahr dabei: Wenn die Erwachsenen dem Kind zu deutlich signalisieren, was sie von ihm erwarten, kann das die Erinnerung gerade von kleinen Kindern beeinflussen. Schließlich wissen Erwachsene auch sonst vieles besser. Auf diese Weise kam es in einigen spektakulären Fällen zu falschen Anschuldigungen. Die anatomischen Puppen wurden dabei schnell zum Symbol einer unprofessionellen „Aufdeckungsarbeit“.

Der BGH hat jetzt den Einsatz derartiger Puppen keineswegs verboten. Er hat nur klargestellt, daß die Ausdeutung von Spielszenen keinen Beweiswert für die Glaubwürdigkeit eines Kindes haben kann, gerade weil deren Auswertung so schwierig ist. Die Bundesrichter vertrauen ganz auf die Erkenntnisse der Aussagepsychologie, die allerdings eine Aussage des Kindes voraussetzt. Im übrigen warnt das oberste deutsche Strafgericht allgemein vor der Anwendung von suggestiven Fragetechniken, weil danach auch eine spätere Aussage des Kindes nicht mehr zuverlässig zu bewerten sei.

Marion Mebes hält die Puppen auch weiterhin für ein sinnvolles therapeutisches „Handwerkszeug“. Entscheidend ist für sie aber, dass man sich genügend Zeit nimmt, um eine „Vertrauensbasis zum Kind“ aufzubauen. „Auch wenn ein akuter Verdacht besteht, darf man nicht in Panik verfallen“, so Mebes. Wenn die Vertrauensbasis gegeben ist, kommt es für die Donna-Vita-Geschäftsführerin aber nicht so sehr darauf an, mit welcher Art von Hilfsmittel dem Kind geholfen wird, sich auszudrücken. „Wenn ein Kind nichts ,sagen‘ darf, kann es unter Umständen schon ausreichen, gemeinsam mit dem Kind zu singen.“ Suggestive Fragetechniken lehnt auch sie ab. „Dem Kind muß eine Hand gereicht werden, es soll aber nicht gelockt oder gedrängt werden.“ Die „überzogene“ Kritik an den Puppen werde eingesetzt, um Menschen einzuschüchtern und zu entmutigem, sich weiter gegen sexueller Missbrauch zu engagieren. Christian Rath