Sonnentau holt sich, was er braucht

Hamburgs Naturschutzgebiete, Teil 3: Im Wittmoor wachsen Fleisch fressende Pflanzen, und im Eppendorfer Moor gedeiht Heidekraut mitten in der Stadt  ■ Von Gernot Knödler

Langsam, ganz langsam schließt sich das Fangblatt. Widerstand zwecklos! Noch während der Sonnentau sein Blatt zusammenrollt, setzt er die ersten Enzyme frei, die zunächst den Chitinpanzer auflösen und schließlich das ganze Insekt in einen verdaulichen Aggregatzustand überführen. Die scheinbaren Tautröpfchen an den feinen Haaren des Fangblattes hatten gar zu verführerisch geglitzert. Dieser Versuchung erlegen zu sein, kostet das Tierchen jetzt das Leben.

Die Bühne dieses Schauspiels ist das Wittmoor, Hamburgs einziges Hochmoor oder eher: das, was davon übrig geblieben ist, weit im Norden der Stadt. Knapp zwei Kilometer ist es von der Haltestelle Meesterbrooksweg der Buslinie 276 in Duvenstedt entfernt. Der größere Teil liegt auf schleswig-holsteinischem Gebiet.

Ein Sandweg führt in das 1978 eingerichtete Naturschutzgebiet hinein, zur Linken lichter Birkenwald, zur Rechten krautige Brach- und Heideflächen. Irgendwann beginnt der Boden unter den Fußtritten zu federn, und zwischen den schmalen Birken zeigen sich die halbmeterhohen Kanten, an denen Hamburger bis in unser Jahrhundert hinein Torf stachen – als billiges, wenig ergiebiges Heizmaterial.

60 Jahre Torfabbau zerstörten das meiste von dem, was innerhalb von 8000 Jahren in einer Schmelzwasserrinne der jüngsten Eiszeit gewachsen ist. Nach dem Rückzug der Gletscher staute sich das Wasser am Boden des Tales, Bruchwald sorgte dafür, dass es nicht verdunstete; Äste, Zweige und Blätter, die ins Wasser fielen, konnten nicht mehr richtig zersetzt werden. Mit der Zeit bildeten sie über dem Sandboden eine wasserundurchlässige, saure Schicht, auf der sich die ersten Torfmoose ansiedelten.

Die Moose sorgten dafür, dass neben ihnen kein Baum mehr hochkam. Sie gaben Säure ab, die die Bäume am Wachsen hinderte. Die Bäume wurden überwuchert, erstickten und stürzten ohne nötigen Halt im Sturm. Über sie hinweg wucherten die langen Fäden des Torfmooses, das jedes Jahr um bis zu zehn Zentimeter wachsen kann, wenn es ordentlich regnet. Oben treibt es saftige hellgrüne Büschel wie winzige Tannenbäumchen, unten stirbt es ab. Aus dem toten Moos bildete sich im Wittmoor seit 5000 vor Christus nach und nach eine drei bis fünf Meter dicke, wie ein Uhrglas gewölbte Torfschicht.

Nur wenige Pflanzen halten dem Konkurrenzdruck des Torfmooses stand. Nur wenige vertragen den sauren Boden und den Stickstoffmangel, der entsteht, weil die Säure der Torfmoose verhindert, dass abgestorbene Pflanzen zersetzt werden. Anspruchsloses Besen-, Glocken- und Rosmarin-Heidekraut sowie die Moosbeere haben sich in verstreuten Büscheln hier niedergelassen. Fleischfressende Pflanzen gedeihen, weil sie sich den Stickstoff zum Wachsen aus ihrer Beute holen. Im Mai und Juni ist das Moor weiß von den Wattebäuschen des langen Wollgrases.

Während wir den ehemaligen Lorendamm entlang wandern, auf dem in vergangenen Zeiten der Torf abtransportiert wurde, inspiziert Andreas Eggers vom Naturschutzamt der Umweltbehörde die südliche Böschung. „Es gibt nirgends soviele Kreuzottern wie hier“, sagt der Biologe. Die Schlange mit dem charakteristischen schwarzen Zickzack-Strich auf dem Rücken liegt gut getarnt zwischen Gräsern und Gezweig. Menschen brauchen vor der Schlange keine Angst zu haben, wie Eggers versichert. Sie frißt lieber Mäuse und Moorfrösche.

Von einem Beobachtungsstand aus bietet sich ein Blick über eine weite Fläche, die spärlich mit Birken bewachsen ist. Aus einem schwarzen Moorsee ragen wie Gerippe tote Bäume. Seitdem die Entwässerungsgräben vor gut 20 Jahren wieder geschlossen worden sind, entwickelt sich hier ganz allmählich ein neues Moor. Wie eine Holztafel des Bezirksamtes Nord informiert, hat dieser Prozess „Vorrang vor allen anderen Interessen, auch vor der Erholung“.

Dieser Satz gilt für jedes Naturschutzgebiet. Dass er nicht ganz leicht umzusetzen ist, zeigt sich an den Wegen durchs Eppendorfer Moor. Meterhoch schießen hier die Brennesseln ins Kraut. „Brennnessel heißt: viel Stickstoff“, sagt Andreas Eggers. „Ganz Eppendorf führt seine Hunde hier aus!“ Das düngt ganz prächtig, ist aber unerwünscht. Denn an einzelnen Stellen im Schutzgebiet wachsen Wollgras und Heidekraut. Entlang des Spazierweges rund ums Schutzgebiet hat das Bezirksamt Wälle aus Ästen und Zweigen aufschichten lassen, damit die Hunde ihren Kot nicht überall verteilen. „Das kann die Glockenheide nicht ab“, sagt Eggers.

Südöstlich des Flughafens liegt das Eppendorfer Moor, umrahmt von Wohnsiedlungen, Kleingärten und Straßen. Wer hier – mitten in der Stadt – lebt, hat ein Naturschutzgebiet von Rang direkt vor der Haustür. Die U-Bahnstation Lattenkamp ist nur wenige Gehminuten entfernt.

Heidekraut und Wollgras sind untypisch für das Niedermoor, das in seiner Entwicklung zum Hochmoor buchstäblich im nährstoffreichen Sumpf steckengeblieben ist. Bundesweit bekannt ist es wegen seiner Schmetterlinge, wie Eggers sagt. Viele von ihnen stehen auf der roten Liste der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten. „Anfang dieses Jahrhunderts haben die hier schon botanisiert“, erzählt der Biologe. Und warum gibt es die Falter ausgerechnet hier, in diesem winzigen Flecken Natur im Häusermeer? „Die sind froh, wenn sie hier landen können“, flachst Eggers.

Rechts des Weges im Laubwald wächst Springkraut. Bei leichtem Druck springen die kantigen, einen Zentimeter langen Schoten auf, und feine Spiralfedern schnellen den Samen durch die Luft. Linker Hand beweist ein bloß noch feuchter Tümpel, wie trocken der Juli in diesem Jahr war. Durch den Wald ist schwach das Rauschen der Alsterkrugchaussee zu hören.

Für die große Straße und die benachbarten Kleingärten sei das Gebiet entwässert worden, sagt Eggers. Jetzt schwankt der Wasserstand stark übers Jahr. Viele seltene Pflanzen konnten damit nicht leben. Sie sind heute verschwunden. Ein hydrologisches Gutachten im Auftrag der Umweltbehörde ist zum Ergebnis gekommen, dass sich der Wasserstand ganzjährig auf einem gleich hohen Niveau halten ließe, ohne die Chaussee oder die Kleingärten absaufen zu lassen. Daraus sollen jetzt Konsequenzen gezogen werden, sagt Eggers.

Am Wegesrand geht er plötzlich in die Knie: Er hat eine gut getarnte, braune Erdkröte ausgemacht. Während die Weibchen mehr als handgroß werden können, passen die Männchen, wie das Exemplar am Wegesrand in eine Streichholzschachtel. Im Frühjahr kriechen so viele dieser Amphibien durchs Schutzgebiet, dass sie kaum zu übersehen sind. Mag der Anblick der Kröten auf viele abschreckend wirken, ihnen ins Auge zu schauen, lohnt sich: Sie haben eine goldene Iris.

Das zentrale Areal des Eppendorfer Moors läßt sich von zwei Aussichtsplattformen aus betrachten. Sie stehen an den Enden eines früheren Pfades, der zugunsten einer ungestörten Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt gesperrt wurde. Lediglich die Leute des Bezirksamtes Nord, des Nabu und der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald stiefeln ab und zu in das Gelände, um Bäumchen und Büsche abzuhacken. Würden sie die Fläche nicht auslichten, geriete sie über kurz oder lang zum Wald. Ohnehin sind die kleinen Flecken Glockenheide in dem weitgehend sumpfigen Durcheinander aus Weidengebüsch, Eichen, Buchen und Erlen sowie zwei zentralen Teichen kaum auszumachen. Doch darauf kommt es Eggers nicht an: „Das ist mit Sicherheit der einzige Glockenheide-Bestand in der Innenstadt“, freut er sich.