Der Schule ihre Würde zurückgeben

■ Zusätzlich zu Paukern unterrichten in einer Berliner Schule „Dritte“: Künstler und Handwerker. Die Kids haben Spaß, die Planstellen-Lehrer stürzen in eine Identitätskrise

Ali hat einem Mitschüler eine verpasst. Das stand nicht im Lehrplan für die Musikstunde. Der Lehrer versucht, wieder Ruhe und Ordnung im Klassenzimmer herzustellen. Ali ist das völlig egal. Die Ansage des Paukers tangiert ihn überhaupt nicht. Ali ist viel zu cool. Ali geht einfach, und der Lehrer ist heilfroh darüber – weil er keine auf die Nase bekommen hat. Die Szene ist Teil der Filmdokumentation über einen Modellversuch an der Berliner Ferdinand-Freiligrath-Schule.

Heute würde die Szene so nicht mehr geschehen. Denn an der Schule hat sich eine kleine Revolution vollzogen. Fünf Jahre lang waren hier die Lehrer auf ihren Planstellen nicht die einzigen, die Unterricht gaben. Freiligraths haben Dritte zu Hilfe geholt – von außen. Ein Bildhauer, ein Akrobatentrainer, ein Dichter, ein Musiker stehen nun vor den Klassen. Sie haben eine wundersame Veränderung bewirkt. Einer dieser Alis, eben noch temperamentvoll bis zur Gewalttätigkeit, steht nun vor uns – und will mehr Schule: „Zwei Stunden ist viel zu wenig“, sagt Ali sehr ernst, „wir müssen das mit dem Rektorat noch klären.“ Ali denkt gar nicht daran zu gehen, Ali will bleiben, länger als die 2 x 45 Minuten, die der Lehrplan ihm und Mitschülern lässt.

Ali steht in der Metallwerkstatt eines Künstlers. Der Mann bespricht mit ihm, wie er das störrische Material mit dem Schweißgerät zusammenfügen kann. Ali wird ernst genommen. Die Autorität des Mannes stammt offenbar aus einem anderen Leben als die papierene des Musiklehrers.

Und die Schüler spüren etwas, was es im normalen Unterricht scheinbar nicht mehr gibt: Sie sind stolz auf das, was sie in der Schule tun. Sie sind konzentriert.

Der Schriftsteller bei Freiligraths hatte einen harten Burschen als Schüler, einen kleinen Macho. Hier hat der vermeintliche Silvester Stallone ein einfühlsames Gedicht über die Liebe geschrieben. Nun haben sich Dichter und Schüler wieder gesehen, irgendwo in Kreuzberg. „Die Arbeit in der Schreibgruppe hat mich aus dem Sumpf herausgerissen“, gesteht der Ex-Schüler.

Der Akrobatentrainer aus Polen ist der Liebling der starken Jungs. Als sie noch normalen Sportunterricht hatten, drohten sie dem Turnlehrer nicht selten mit einer Strafanzeige – wenn sie mal auf die Weichbodenmatte stürzten. Nun bauen sie menschliche Pyramiden, vier Mann hoch. Jeder muss sich auf die Kraft und die Konzentration des anderen verlassen. „Jeder kann sich da beweisen, wo er gut ist“, sagt Massimo.

Jedes Märchen braucht eine Fee. Die der Film-Dokumentation heißt Leila. Sie kommt aus dem Libanon, und es machte ihr keinen Spaß, die alte Freiligrath-Schule zu besuchen. In der neuen, wo auch Künstler Lehrer sind, ist sie der Star der Schule. Sie mimt die Whitney Houston beim Musical des Schulfestes. Ihr Regisseur ist echter Musiker. „Wenn die Dritten wieder gehen“, sagt Leila über ihren Regisseur, „ist das so, als wenn die Schule ihre Ehre verliert. Das ist so, als wenn sie Paris den Eiffelturm wegnehmen.“ Ohne Künstler keine Schule mehr.

Und was passiert, wenn, wie nach den Sommerferien vorgesehen, aus dem Modellversuch der Regelfall wird. Wenn nach den Künstlern die Handwerker für ein paar Jahre Lehrer spielen? Dann wird es Probleme geben. Einen Teil der Planstellen-Lehrer hat der Modellversuch in Kreuzberg in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. „Wo bleibe ich eigentlich“, fragt sich eine Lehrerin der Freiligrath-Schule. Sie wolle, so erklärt sie nach fünf Jahren Rollensuche, „eigentlich gar keinen normalen Unterricht mehr machen.“

Ein anderer Pauker mäkelt, „der Modellversuch ist gescheitert. Ich kann das nicht mehr mittragen.“ Ein Drittel der Lehrer hat der Ferdinand-Freiligrath-Schule den Rücken gekehrt. Das hat intern zu Spannungen geführt. Aber aufgeben wollen weder die anderen Lehrer noch die Dritten und schon gar nicht die Schüler. Auch der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen von der Freien Universität Berlin, der den Modellversuch wissenschaftlich begleitet, macht der Freiligrath-Schule Mut, den eingeschlagenen Weg weiter zu begehen. „Das Dritte, also die Welt“, argumentiert Lenzen, „ist schrittweise aus der Schule verdrängt worden.“ Jetzt ist es wieder da. Christian Füller

„Die Dritten kommen – eine Schule erfindet sich neu. Buch und Regie: Reinhard Kahl. Verlag Pädagogische Beiträge, Hamburg