S-Bahn zum Knutschen

Vor 75 Jahren rollte die erste elektrische Stadtbahn in Berlin. Der Umsatz steigt, die Wagen sind veraltet  ■   Von Philipp Gessler

Die Karte 79, „HWS Schöneweide“, ist besonders gefragt. Das Foto mit dem neuen Panorama-Wagen der S-Bahn ist im Postkartenständer des Kundenzentrums am Alexanderplatz unter den knapp 100 verschiedenen Motiven der Renner. Dabei unterscheiden sich die Karten kaum: S-Bahnen in Rot-Ocker-Schwarz auf Gleisen, vor Mauern, vor Bäumen, über Flüssen, in Hallen, auf Feldern, von vorne, von der Seite, von hinten, von ferne und von nah. Ist das verrückt? Die Beziehung vieler Berlinerinnen und Berliner zu ihrer Stadtbahn ist so unverständlich und schwärmerisch wie eine große Liebe. Und in diesen Tagen schäumt sie wieder mal über.

Am Sonntag wird die Urmutter aller Stadtbahnen Deutschlands 75 Jahre alt. Seit einem Dreivierteljahrhundert fährt sie nun mit elektrischem Antrieb, mit Gleichstrom, auf einer Strecke von heute 321 Kilometern durch die Hauptstadt. Gefeiert wird das am Wochenende entlang der zehn Gleise im Bahnhof Olympiastadion.

Im Ticket- und Nippesladen unter den Gleisen am Alexanderplatz sind die Heiligtümer der S-Bahn-Fans zu erstehen: Videos der Reihe „Im Führerstand der Berliner S-Bahn unterwegs“, etwa mit der S 25 von Tegel nach Lichterfelde-Ost für 34,50 Mark, Telefonkarten mit S-Bahnen als Motiv für 38 Mark („nur noch wenige Karten“, warnt ein Schild in der Vitrine), eine CD „Mit der S-Bahn durch Berlin“, wahlweise Karaoke- oder Dancemix-Version, und natürlich ein Modell des traditionsreichsten S-Bahntyps schlechthin, der Baureihe (BR) 475, für 84,50 Mark – „nicht für Kinder unter 6 Jahren geeignet“, wird gemahnt.

Doch Vorsicht: Die S-Bahn war nie ein Kinderspielzeug, sondern immer eine so ernste Sache wie der Karneval in Köln oder das Bier in München – vielleicht auch deshalb, da sie sich in Jahrzehnten nicht verändert hat: Noch vor zwei Jahren fuhren in der Hauptstadt S-Bahnen, die 1928 gebaut wurden.

Die Berliner S-Bahn war in ihrer großen Zeit während der 20er und 30er Jahre das Vorbild für alle Stadtbahnen Deutschlands. Damals wurde die BR 475, die klobige „Stadtbahn“, ihr Mythos, ein Symbol der pulsierenden Metropole. Es war eine Zeit der Rekorde. Während der Olympischen Spiele 1936 beförderte die S-Bahn pro Tag über zwei Millionen Fahrgäste. Heute liegt der Schnitt ungefähr bei der Hälfte.

Die Nazizeit brachte auch den bis heute gültigen Höchststand von 737 Millionen Reisenden im Jahr – und die düstersten Seiten in der Geschichte der S-Bahn: Die SS sprengte in den letzten Kriegstagen eine Tunneldecke der Nord-Süd-S-Bahn unter dem Landwehrkanal. Millionen Kubikmeter Wasser sollten noch am Tage der Kapitulation der Reichshauptstadt und noch nach Hitlers Selbstmord die sowjetischen Truppen vom Marsch auf das Regierungsviertel am Anhalter Bahnhof abhalten – bei der Sprengung ertranken rund 90 Menschen. Es waren vor allem Verwundete aus Lazarettzügen. Tausende konnten den Fluten mit nur knapper Not entgehen. Viele Akten zu diesem Fall sind verschwunden.

In der geteilten und zerbombten Hauptstadt, aufgeteilt unter den Allierten, wurde den Sowjets nach dem Krieg die Deutsche Reichsbahn zugeschlagen – bis 1984 fuhr die S-Bahn auch in West-Berlin unter sowjetischer und später unter DDR-Aufsicht, auch mit West-Angestellten. Die S-Bahn wurde in der geteilten Stadt zum Zankapfel und Verbindungsglied zugleich. Der Arbeiter- und Bauernstaat hatte eine Speerspitze des Sozialismus auf kapitalistischem Grund, West-Berlin eine Klammer zum Osten. Der langjährige S-Bahn-Chef Friedrich Kittlaus lebte bis zu seinem Tod, obwohl im Dienst der DDR, in West-Berlin.

Im Westen wurde die S-Bahn unmittelbar nach dem Mauerbau fast vollständig boykottiert. Männer mit umgehängten Plakaten mahnten: „Wer S-Bahn fährt, zahlt Ulbrichts Stacheldraht.“ Die S-Bahn verfiel im Westen, da die DDR dort nicht mehr investierte. Sie hieß bald „Schüttelbahn“, während sie im Osten ein beliebtes und zuverlässiges Verkehrsmittel blieb. Die Strecke zum Bahnhof Friedrichstraße verlief weiter zwischen Ost und West. Sie war hochgeschätzt bei Alkis aus dem Westen, die im Intershop billig ihren Stoff holen konnten, und bevölkert von DDR-Rentnern, die problemlos in den goldenen Westen reisen durften. Die BVG (Berliner Verkehrsbetriebe), der die Busse, U-Bahnen und Trams unterstehen, übernahm 1984 bis zum Mauerfall die S-Bahn. Das Netz aber ist immer noch nicht so groß wie vor dem Mauerbau 1961.

Heute betreibt die Deutsche Bahn die S-Bahn – und hat immer noch schwer damit zu tragen. Zwar steigen Umsatz (mehr als 820 Millionen Mark pro Jahr) und Fahrgastzahlen (etwa eine Million werktags), aber immer noch bilden Uraltwagen aus den 30er Jahren die Hälfte des Wagenparks – die DDR hatte kein Geld für neue. Die meist nur etwas modernisierten Museumsstücke erfordern einen „wahnsinnigen Wartungsaufwand“, wie S-Bahn-Sprecher Andreas Fuhrmann einräumt. Auch deshalb ist die S-Bahn pro gefahrenem Kilometer, verglichen mit den Stadtbahnen anderer Städte, teuer. Die S-Bahn will in den nächsten Jahren über zwei Milliarden Mark für neue Wagen ausgeben.

Die Deutsche Bahn muss außerdem die Renovierung des S-Bahn-Drehkreuzes im Osten der Stadt, Ostkreuz, finanzieren. Der Knotenpunkt steht unter Denkmalschutz, er stammt in wesentlichen Teilen noch aus den 30er Jahren und hat von der Berliner Schnauze den Spitznamen „Rostkreuz“ bekommen. Es muss bei laufendem Betrieb erneuert werden. Kosten: 700 Millionen Mark.

Richtig lebendig aber werden die Berliner beim Thema Nordring. „Ein Trauerspiel“, nach den Worten Christian Gaeblers, des SPD-Verkehrsexperten. Nach der Wende glaubte man, die alte Strekke am nördlichen Rand der Stadtmitte schon 1995 wieder in Betrieb nehmen und damit den alten S-Bahn-Ring um die City wieder schließen zu können. Es geht nur schleppend voran – mittlerweile nennt man 2002 als Eröffnungsdatum, und auch das ist optimistisch. Geschätzte Baukosten: eine Milliarde Mark.

Aber das dürfte es den Berlinerinnen und Berlinern wert sein, denn die Ringbahn war unter den Liebespaaren der Stadt als „Knutschtour“ bekannt: eine Strecke „ohne Ende“, auf der man 75 Minuten lang in einem versteckten Winkel der quietschenden Waggons seine Ruhe hatte – und einfach weiterfahren konnte, wenn die Zeit zu schnell verstrich. Vielleicht ist das ja der wahre Grund für die Liebe der Hauptstädter für ihre S-Bahn.