Sind Professoren rassistischer als Arbeiter?

■  Göttinger Wissenschaftlerin behauptet: Deutsche Arbeiter sind toleranter als der Rest der Bevölkerung. In der Ablehnung von Asylbewerbern und Aussiedlern sind sich Deutsche, Türken und Frauen jedoch einig

Berlin (taz) – „Wenn die Arbeitszeit in der Woche eine Stunde länger sein würde und dadurch keine Gastarbeiter mehr in Deutschland wären – würden Sie das begrüßen oder nicht?“ Auf diese Frage antworteten 1964 70 Prozent aller Männer und 64 Prozent aller Frauen, lieber länger arbeiten zu wollen. Heute ist vieles anders.

Zwischen Deutschen und Türken herrscht am Arbeitsplatz eine größere Harmonie und Toleranz als draußen im richtigen Leben. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie des Zentrums für Europa- und Nordamerika-Studien der Universität Göttingen: „Männlich – Weiblich. Türkisch – Deutsch. Lebensverhältnisse und Orientierungen von Industriebeschäftigten“. An der Untersuchung hatten 400 Beschäftigte aus der Automobilbranche teilgenommen.

Projektleiterin Ursula Birsl widerspricht Vorurteilen und Umfragen, die bei Gewerkschaftsmitgliedern ein überdurchschnittlich hohes Rechtspotential vermuten. „Wir konnten nur bei sechs Prozent der Befragten fremdenfeindliche Einstellungen feststellen.“ Das liegt weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt von bis zu 20 Prozent. Birsls Erklärung: „Die meisten der Befragten sind in der IG Metall organisiert, mit einer starken Milieuanbindung und Möglichkeiten der politischen Partizipation innerhalb des Betriebes.“ Und überall dort, wo Menschen auf ihr Leben Einfluss nehmen können, haben Populisten bekanntlich wenig Chancen.

Die Betriebe sind allerdings keine Orte des interkulturellen Ringelreihens. „Das Verhältnis zwischen deutschen und türkischen Beschäftigten ist spannungsgeladen und konfliktreich, und die Betriebsräte bewegen sich oft auf einem schmalen Grat, wenn es darum geht, den Bedürfnissen der verschiedenen Gruppen gerecht zu werden“, relativiert Birsl. Die deutschen Beschäftigten beklagten eine „Übersättigung“ mit dem Thema „Gleichstellung von Ausländern“. Diese wiederum entwickeln eine höhere Sensibilität gegenüber ihrer schlechteren Lebens- und Arbeitssituation.

Trotz dieser Ausgangslage waren die Wissenschaftler überrascht, wie offen im Betrieb über all diese Probleme diskutiert wird. „Alles ist mit weniger Tabus belegt als im öffentlichen Diskurs und dadurch verhandelbar“, bemerkt die Projektleiterin. Dies sei unter anderem Ausdruck der Normalität des Zusammenarbeitens seit den 60er Jahren.

Folgerichtig stößt bei den befragten deutschen Arbeitern die Gleichstellung in der Arbeitswelt und den beruflichen Chancen ebenso auf große Zustimmung wie die im kulturellen und beruflichen Leben. So erfolgreich die Integration im betrieblichen Nahbereich auch sein mag, im Fernbereich sieht es nach wie vor schlecht aus. Die rechtliche Gleichstellung wird vor allem von männlichen Facharbeitern kritisch gesehen. Eine knappe Mehrheit wendet sich gegen ein Wahlrecht über die kommunale Ebene hinaus und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Weniger aus einem völkischen Denken heraus, sondern aus der Befürchtung, Ausländer würden mit dem Doppelpass privilegiert.

In einem sind sich Deutsche und Türken, Frauen und Männer einig: In der Ablehnung der Asylsuchenden und der Aussiedler – den wahren Fremden von heute.

Eberhard Seidel