Keine Begeisterung mehr für slawische Verbrüderung

■ Russland und Weißrussland wollten eigentlich eine Union werden. Jetzt kommen in Moskau Zweifel auf, ob man sich wirklich Diktator Lukaschenko ans Bein binden will

International isoliert, vor dem Den Haager UN-Tribunal wegen Kriegsverbrechen angeklagt und eine stärker werdende Opposition im Genick, setzt Jugoslawiens Präsident Slobodan Miloševic auf die slawische Karte. Am vergangenen Wochenende einigten sich Parlamentarier Russlands, Weißrusslands und Jugoslawiens auf die Bildung einer Kommission, die den Beitritt Belgrads zur russisch-weißrussischen Union vorbereiten soll. Im April hatte das jugoslawische Parlament mit deutlicher Mehrheit für eine Mitgliedschaft gestimmt. Die zehnköpfige Kommission soll Anfang September erstmals zusammentreten.

Gennadi Selesnjow, Präsident der Duma und Mitglied der Kommunistischen Partei, dämpfte gleich überzogene Erwartungen. Schnell werde Jugoslawien nicht in die Union aufgenommen, sagte er, aber es sei wichtig, das jugoslawische Volk zu unterstützen. Selesnjows Zurückhaltung hat Gründe. Die Union, im April 1996 besiegelt und seitdem immer wieder bekräftigt, ist über Absichtserklärungen nicht hinausgekommen.

Unlängst versuchte Moskau der Unionsleiche Leben einzuhauchen. Für Herbst kündigte Russlands Premier Sergej Stepaschin die Unterzeichnung eines Dokuments an, das beiden Ländern erlaube, als Staatenunion in das 21. Jahrhundert einzutreten. Stepaschins Wiederbelebungsversuchen vorausgegangen war eine scharfe Kritik von Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko. Sollte der Vereinigungsprozess weiter auf der Stelle treten, werde Minsk eine Annäherung mit dem Westen suchen, hatte Lukaschenko gedroht und damit erneut seine verzerrte Wahrnehmung der Realität unter Beweis gestellt.

Denn der Westen, bis dato ein erklärter Erzfeind Lukaschenkos, hat seine Beziehungen zu Weißrussland auf Eis gelegt. Vor zwei Wochen düpierte der Präsident die OSZE, als er, trotz Ankündigung eines Dialogs mit der Opposition, dutzende Teilnehmer einer Demonstration in Minsk verhaften ließ. „Für Lukaschenko führt kein Weg in den Westen“, titelten russische Zeitungen. Und auch Lukaschenko beschlich der Verdacht, sich etwas zu weit vorgewagt zu haben. In einem Interview mit der Woche schlug er einen moderateren Ton an. Er habe Jelzin vorgeschlagen, Präsident der Union zu werden. Er selbst stehe als Vize bereit. Jedoch habe er nicht vor, Jelzins Laufburschen zu spielen, sagte Lukaschenko und pokerte weiter. „Weißrussland steht nicht vor dem Kollaps, und Lukaschenko hat die totale Kontrolle über das Land“, befand der weißrussische Oppositionelle Juri Dragochrust. „Er verlangt einen hohen Preis und würde Weißrussland am liebsten gegen den Kreml eintauschen.“

Dass sich der weißrussische Diktator über Unionsinstitutionen wie einen Präsidenten, Vize und ein Parlament ein Entree ins Moskauer Machtzentrum verschaffen will, dämmert den russischen Kommunisten. Deren Begeisterung für eine Union hat nachgelassen. Die Einrichtung eines Präsidentenposten stehe nicht auf der Tagesordnung, teilte Gennadi Selesnjow mit. Der Chef der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, und Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow verzichteten angesichts der Aussicht, sich einen bankrotten Staat nebst machtbesessenen Präsidenten ans Bein zu binden, auf Stellungnahmen.

„Russland kann Lukaschenko nicht brauchen“, hämte Stanislaw Schuschkewitsch, Ex-präsident des weißrussischen Obersten Sowjets und einer der erbittertsten Widersacher Lukaschenkos, in der russischen Wochenzeitung Moskowskie Nowosti. „Die politische Elite betrachtet ihn als Kater. Wenn die Elite gut gelaunt ist, hat er Anrecht auf ein Streicheln. Wenn nicht, auf einen Fußtritt. Wen kümmert das?“

Vielleicht einen: Boris Jelzin. Schon spekuliert die russische Presse, ob Jelzin über eine Unionspräsidentschaft versuchen könnte, sein Mandat zu verlängern. Aus zuverlässiger Quelle wisse er, dass der Kreml plane, die Präsidentenwahlen im kommen Jahr zu verschieben, teilte der letzte sowjetische Präsident, Michail Gorbatschow, der Iswestija mit. Die Verschiebung stünde in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schaffung einer Union. Doch soweit ist es noch nicht. Vor solche Entscheidungen hat Russlands Verfassung die Parlamentswahlen im Dezember gesetzt. Zumindest sportlich geht die Vereinigung voran. Der Fußballclub Dynamo Minsk wurde eingeladen, ab der nächsten Saison in der russischen Liga zu spielen. Barbara Oertel