Ein Märchen in XXL

Süddeutschland wird sich Mitte kommender Woche vor Besuchern kaum retten können. Die Gäste werden alle erwünscht sein: Sonnenpilgerer, die ihre einzige Chance in ihren Leben nutzen möchten, eine Sonnenfinsternis direkt in ihrer Nähe erleben zu können. Anders als Menschen früher fehlt ihnen freilich die Angst vor Katastrophen wegen der natürlichen Verdunkelung bei Tag. Ein Wissenschafts- und Herzensreport  ■ von Matthias
Urbach

Die dunkelste und finsterste Sonnenfinsternis seit dem Leben und Sterben Jesu Christi“ (Nostradamus) wird über Europa zu sehen sein. Wir raten nur zu einem: Seien wir alle wachsam“, formulierte kürzlich Ingrid Schlotterbeck, Herausgeberin vom Magazin 2000plus. Einige machen sich schon auf Schlimmstes gefasst. Die Astrologin Elisabeth Tessier etwa warnt wahlweise vor dem Sturz der plutoniumbetriebenen Cassini-Sonde auf die Erde, dem Einschlag eines Meteors oder gar der Invasion Außerirdischer. Der „Wirtschaftsastrologe“ Manfred Zimmel hingegen rechnet fest mit einem Börsencrash.

Das Astrologieheft Magazin 2000plus empfiehlt, eine Videokamera mitzunehmen. „Falls Sie etwas Ungewöhnliches sehen“, heißt es, „filmen Sie es, und schicken Sie uns eine Kopie des Bandes.“ Schließlich seien nach der Sonnenfinsternis in Mexiko 1991 jede Menge Ufos aufgefallen. Und „noch nie seit der Gründung der Bundesrepublik war die Lage so ernst, waren so viele europäische Mystiker so nervös“, glaubt das Blatt zu wissen.

Die Furcht vor einer vollständigen Dunkelheit bei Tag hat Tradition: Jahrhundertelang galt sie vielen Völkern als böses Omen, entschied in der Antike zuweilen gar Schlachten. Doch spätestens im 19. Jahrhundert wurden Sonnenfinsternisse im alten Europa unter aufgeklärten Kreisen zur Attraktion.

„Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten – es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden“, erinnerte sich, merklich immer noch erschüttert, Adalbert Stifter, Maler und Dichter, im Jahre 1842.

Heute dürfte die überwältigende Mehrheit mehr Angst vor Computerviren in der E-Mail haben als vor einer Sonnenfinsternis. Die Natur hat ihre Bedrohlichkeit verloren. Der Mond schiebt sich vor die Sonne und schattet sie komplett ab – das ist leichter zu kapieren als jedes Windows-Update. Es wird zur Mittagszeit für gut zwei Minuten so dunkel wie in einer klaren Vollmondnacht: Na und?

Antworten gibt es fast nur in Form von Kitschprosa. Adalbert Stifter, vor anderthalb Jahrhunderten in Wien selbst Zeuge einer Finsternis, beobachtete gerührt: „Deckend stand nun Scheibe auf Scheibe – und dieser Moment war es eigentlich, der wahrhaft herzzermalmend wirkte – das hatte keiner geahnt – ein einstimmiges 'Ah' aus aller Munde. Und dann Totenstille, es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten.“

Beinahe jedes Jahr findet in irgendeinem Winkel der Welt eine Sonnenfinsternis statt, außergewöhnlich daran ist nur, dass ein wachsender Strom von Finsternisjägern einem dieser Ereignisse hinterherreist. „Als die Finsternis endete, war mein erster Gedanke' wann kommt die nächste' „, beschreibt etwa der Amerikaner Jeffrey Charles auf der Homepage der Eklipsenjäger. Wenn sich mitten am Tag die Sonne verfinstert, die Temperatur plötzlich um fünf Grad oder mehr abfällt, die Vögel verstummen, Wind aufkommt und die Sterne und ein leuchtender Kranz um die abgeschattete Sonne sichtbar werden, lässt das auch abgeklärte Naturen kaum kalt. „Selbst die geschwätzigsten Menschen werden ganz still“, berichtet der Physiker Rudolf Kippenhahn, „wenn der Schatten des Mondes über sie hinwegzieht.“ Der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Astrophysik reiste schon vier Finsternissen hinterher: „Man wird süchtig danach.“

Wundersame Dinge stehen zu erwarten. In Karlsruhe werden merkwürdigerweise trotz Dunkelheit die Straßenlaternen nicht anspringen. Millionen von Menschen werden in einen 110 Kilometer breiten Gürtel pilgern, durch den der Mondschatten mit Tempo 3.000 von Südengland bis nach Indien rast. Immerhin gibt es die Finsternis in dieser Region der Erde nur einmal in einem Menschenalter zu bestaunen. Die Sonnenfinsternis ist, was Tourismusmanager neudeutsch ein Event nennen. Aber was für eins. Wenn etwas dieses Ereignis beflügeln kann, dann nicht Untergangsprophetie, sondern Kommerz. Mit der Vermarktung eines Naturevents läßt sich mehr Geld machen als mit der Angst.

Richtig zur Sache geht es im englischen Cornwall, denn nur ein kleiner südwestlicher Fitzel der Britischen Inseln wird komplett abgeschattet. Wegen des erwarteten Andrangs vom Rest der Insel hatten Lokalpolitiker ihre Bewohner vor neun Monaten gewarnt, sich mit dem Kinderzeugen lieber etwas zurückzuhalten, um bei akuten Wehen nicht im Finsternisverkehrschaos liegen zu bleiben.

Deutsche Tourismusmanager frohlocken, sofern ihre Region in der Schattenzone liegt: „Das versuchen wir natürlich ganz schamlos auszunutzen“, verspricht Stuttgarts Touristikdirektor Klaus Lindemann. In zwei Minuten Dunkelheit lässt sich freilich kein Geschäft machen: Deshalb toben die Sonnenpartys in den meisten Städten gleich die ganze Woche. Dreihunderttausend Mark lässt sich etwa Stuttgart sein Sonnenfestival kosten, schließlich werden eine halbe Million Besucher erwartet. München plant sogar ein Fest im Olympiastadion.

Mancherorts spielt selbst die Polizei mit: In Karlsruhe, Pforzheim und Saarbrücken wird die Straßenbeleuchtung deaktiviert, die sonst kurz vor der totalen Phase aufleuchten würde. Aus London und Paris werden drei Concorde-Maschinen in die Luft steigen, um mit doppeltem Schalltempo mit dem über die Erde wandernden Mondschatten mitzufliegen. So kann die Finsternisdauer auf um die zehn Minuten gestreckt werden. Die Fluggäste werden freilich an ihren 3.900 Mark teuren Tickets keinen großen Spaß haben, denn auf vier Passagiere kommt nur ein Fensterplatz auf der richtigen Seite. Mit dem Zeitverlust fürs Plätzetauschen kommt jeder wieder nur auf zwei Minuten – verrenkter Hals inklusive.

Natürlich steht auch das Fernsehen bereit, mit Livesendungen auf allen Kanälen. Das ZDF fliegt gar an Bord einer Spezialmaschine der deutschen Raumfahrtgesellschaft DLR mit, um einen wolkenfreien Blick auf den kosmischen Blackout zu haben. Doch eine Finsternis im Fernsehen ist so aufregend wie ein Sonnenuntergang auf der Fototapete.

Irgendwie entzieht sich das Naturereignis der Vermarktung. Warum bitte soll man sich eine Sonnenfinsternis durch ein Flugzeugbullauge ansehen, durch das man nur die Hälfte sieht? Und warum sollte man ausgerechnet nach Stuttgart oder München fahren, wo Abgasschwaden und Streulicht den Blick auf den Himmel verstellen? Und die ganze Show wird platzen, wenn es bewölkt ist. Ironie der Geschichte: In Süddeutschland liegt die Wahrscheinlichkeit für eine klare Sicht nur bei fünfzig bis sechzig Prozent.

Um ein Ereignis zu werden, braucht die Sonnenfinsternis weder die Tourismuszentralen noch die Medien. Ihre Reichweite ist höher als die jeder TV-Show und ihr Anblick beeindruckend auch ohne Bratwurst und mediale Überhöhung. „Wie hast du die Sonnenfinsternis erlebt?“, werden wir uns vermutlich später genauso selbstverständlich fragen wie nach dem Empfinden bei Lady Dianas Tod oder dem Mord an John F. Kennedy sen. Und ein paar tausend Mitteleuropäer mehr werden der Sucht des Eklipsenjagens verfallen.

Jahrtausendelang haben Sonnenfinsternisse auf der Erde Schrecken verbreitet. Selbst 1983 bei der Finsternis in Indonesien versteckten sich auf dem Land einem Aberglauben folgend noch schwangere Frauen in ihren Häusern, um ihren Nachwuchs zu schützen. Auch in Deutschland ging noch zur Finsternis 1748 die Angst um, Gifte könnten während der Finsternis freigesetzt werden. Der Kurfürstliche Hofrat in Ehrenbreitstein etwa gab einen Erlass heraus, die Brunnen abzudecken und das Vieh im Stall zu lassen.

Heute ist eine Sonnenfinsternis geradezu ein Sinnbild für den Triumph der Aufklärung über den Aberglauben. Nicht wenige werden zum ersten Mal von einer Finsternis bei der Lektüre von Herges „Tim und Struppi“-Comic „Der Sonnentempel“ gehört haben. Tim kann dem Scheiterhaufen eines in den Bergen verborgen lebenden Inka-Stammes dadurch entgehen, daß er um einen Exekutionstermin zeitgleich zu einer Sonnenfinsternis bittet – und seinen abergläubischen Peinigern vorspielt, die Sonne beherrschen zu können. Auch Autoren wie Mark Twain verwenden dieses Thema in ihren Romanen, das sein Vorbild bei Christoph Kolumbus findet, der 1504 die Ureinwohner Jamaikas zur Kooperation bewegte, indem er sie auf dieselbe Weise mit einer Mondfinsternis beeindruckte.

Im alten China glaubte man, dass ein Drache die Sonne verschlucken werde; die nordischen Völker hatten eine ähnliche Vorstellung, nur dass es Wölfe waren, die Sonne oder Mond verschlangen. Die Geschichte vom Rotkäppchen wurzelt auch in diesem Mythos.

Heute finden wir keine fürchtbaren Geschichten, keine zwiespältigen Deutungen mehr für dieses Phänomen. Die physikalische Erklärung läßt keinen Raum für das, was das rational verstandene Ereignis auslösen kann. „Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes – so ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis gegangen“, schrieb Adalbert Stifter nach seiner Sonnenfinsternis.

Doch im Mittelpunkt der hiesigen Berichte stehen Ratschläge, wie man seine Augen am besten schützt. Auch die Kirche fühlt sich nicht zuständig. In der Genesis werden schließlich Mond und Sonne zum Teil der Schöpfung – und damit als Götter entthront. Das überzeugte freilich nicht einmal jedes kirchliche Oberhaupt: Von Papst Urban VIII. ist überliefert, daß er sich 1628 vor der vorhergesagten Finsternis so sehr fürchtete, dass er sich zum Verkriechen einen hell erleuchteten Raum schaffen ließ, der einen Minikosmos darstellte. Eher widerwillig springen heute Kirchengemeinden mit kleinen Veranstaltungen auf den Zug, um das Feld nicht den Konkurrenten aus der Esoterikszene zu überlassen.

Die suchen schon längst den geistigen Bezug zur Finsternis. In der Nähe von Bukarest treffen sich etwa Goa-Fans zum einwöchigen „Solipsefestival“ auf einem Hügel im Grünen, mit Tanz, Theater und Meditation. Sie wollen die Finsternis am Ende des Millenniums feiern, als ein Symbol „für das Ende des Lebens, das die Humanität vernachlässigt“ und der „Beginn eines Bewusstseins, das mehr im Einklang mit der Natur steht“. Und in der Stuttgarter Liederhalle treffen sich auf Einladung der anthroposophisch orientierten Christengemeinschaft rund 1.600 Menschen aus aller Welt, um über die „kosmische Dimension im Christentum“ zu diskutieren. Selbst das Pforzheimer Touristenbüro organisierte für 11. August Kurse in „Eurhythmie und Meditation“.

Die große Mehrheit wird freilich nicht nach dem Sinn hinter der Finsternis fragen, sondern bloß das Spektakel suchen: Die Sonnenfinsternis als eine Art romantischer Sonnenuntergang in XXL und damit als ein modernes Märchenspektakel.

Matthias Urbach, 32, ist taz-Redakteur und wird am Mittwoch irgendwo im Schwarzwald mit seiner Liebsten auf einer Wiese liegen und in den Himmel schauen