Die Wahrheit über Dr. Maria Galvan

Literatur am Morgen, oder: Unser Beitrag zum Goethejahr, oder aber einfach: Ein Bericht über ein Vorkommnis während eines Gastspielaufenthaltes mit meiner Musikgruppe „Die Feinen Herren in Prag“  ■ Von Mark Scheibe

Herr Fritsch, mein Mitmusiker, entgleiste, er war jetzt betrunken, lachte hämisch über den Tresen zu der verschlafenen Kellnerin und versuchte mit ein paar Brocken Tschechisch sein Glück. Da kam die berühmte Modeschöpferin Frau Lukas und setzte sich einfach still neben ihn und er riss sich wieder zusammen, weil er ein Feiner Herr sein wollte. „Gestatten, mein Name ist Fritsch“, entfuhr es ihm mit aller Konzentration, ich bin Jazzmusiker, pass auf“, schlug wie irr mit einem Bleistift in der einen und einem Stoß Bierdeckel in der anderen Hand auf verschiedene auf dem Tresen liegende Gegenstände ein und gab sich auch verbal sehr rhythmisch. „Miles Davis, wer ist das schon? Ha! Nimm dies! Jazz! Das muss kacheln, so ist es doch!“ Frau Lukas sagte der Kellnerin, dass sie ihren Martini lieber doch nicht möge, und ging wieder weg. Sie wollte das Hotel wechseln. Herr Fritsch lachte privat, dann wurde er still und dachte nach. Der Gedanke, dass er sich zu stark abgrenzte von den Menschen, kreuzte seinen Rausch und blieb. Traurigkeit. Schlechtes Gewissen. Angst, die Weichen falsch gestellt zu haben, vor ein paar Jahren. „Kellnerin, bringen Sie mir noch einen Halben! Haben Sie schon etwas vor heut' Nacht? Kommen Sie, ich zeig' Ihnen meine Briefmarkenalben! Harrharrharr, bimmel bimmel!“

Fritsch war auf der Kippe, das war klar.

Oben in seinem Zimmer tapste mein anderer Mitmusiker Klüver, der sich auf nicht ganz koschere Weise ein Duplikat von Fritschens Schlüssel angefertigt hatte, mit einer Mischung aus Vorsicht, Angst und Erregung im Dunkeln des fremden Hotelzimmers. Da fand er einen Trittschalter, unter einem Haufen uralter Zeitungen. Eine Lampe mit drei kleinen verstaubten Schirmen in Farben, die einmal leuchtend gewesen sein mögen, taucht den Raum in erschreckendes Licht. Herr Fritsch war schon ein Sonderling, da steht eine braune Kunstledercouch, auf der er wohl zu schlafen pflegt. In einem Plastikbecher häufen sich stinkende Zigarillostummel zu einer bizarren Skulptur, drumherum jede Menge Besteck und schmutzige Gläser, jeder Gegenstand jedoch mit einem Etikett und einer Nummer versehen. Klüver ging ein Licht auf und eine makabre List streckte ihre schleimigen Fühler in ihm aus. Wenn Fritsch hier sämtliches Geschirr archivierte, das ja Eigentum des Hotels war, so wäre es ein Leichtes, ihn brutal zu erpressen, so dass er schließlich ihm, Klüver, das verdammte Geheimnis der ewigen Lippenspannung, dessen Besitz zu wahren Glanzleistungen auf Blasinstrumenten befähigt, widerwillig gestehen müßte.

Klüver wurde warm ums Herz und er ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Tief sank er in die matten Polster, was ihn erregte, ihm wurde üppig um die Lenden. Das Blut im Gehirn wurde weniger zugunsten anderer Körperteile. und er sich in Fritschens Voodoopuppe, die er beim Liebesspiel hinter der Couch entdeckt hatte, ergoss.

Eine rauchen. Mist, keine Zigaretten mehr. Schnell einen Stummel aus dem Plastikbecher gepult und sportlich zwischen die Lippen geschnalzt, Befriedigung legte sich wie ein Erfrischungstuch aus dem Wienerwald über das entrückt pulsierende Gesicht Klüvers, als schließlich Bruder Schlaf es war, der anrückte, um den Feinen Herrn gekonnt zu „übermannen“. Nicht mit Klüver, dem alten Haudegen, der nicht daran dachte, die Spuren seiner Wollust zumindest behelfsmäßig zu kaschieren, zum Beispiel mit dem nutzlos gewordenen Erfrischungstuch. Nein, stattdessen sprang er auf, frohen Mutes und sich auf der moralisch richtigen Seite wähnend, durchschritt mit kühnem Lauf abermals das fremde Zimmer und mit einem Rest an Vorsicht keck raus auf den Flur. Hopps, da war auch schon Fritsch, der ihm entgegenwankt, sich an seinem Schlüssel festhaltend und von den erotischen Ausdünstungen Klüvers fehlgeleitet, in der Annahme, es sei Paarungszeit, sich ihm trunken an die Brust werfend. Das folgende Prozedere sei dem Leser erspart. Nur so viel: Am nächsten Tag, etwa zur Mittagszeit, fand man sich zum Frühstück wieder bei Bewusstsein. Man sprach über den Vorfall und entschloss sich, diesen prekären Fall einem Spezialisten anzuvertrauen. Im Prager Branchenbuch fand sich dann auch nur ein Eintrag in der Rubrik „Paartherapie“:

Dr. Maria Galvan.

Klüver wurde euphorisch angesichts der Aussicht, in Kürze ein peinliches Problem los zu sein, Fritsch jedoch blieb beinahe das Herz stehen. Jetzt ist es also so weit, alles kommt raus. Nein. Das musste um jeden Preis verhindert werden, dachte sich Fritsch, dass sein Doppelleben, das er seit Jahren minutiös und mit leidenschaftlicher Sorgfalt organisierte, so mir nichts, dir nichts aufflöge. Es galt also, von dieser ominösen Frau Dr. Maria Galvan abzulenken. Denn natürlich war Maria Galvan niemand anderes als: Fritsch selbst. Ende der achtziger Jahre, Fritsch hatte das mittelmäßige Abitur gerade in der faulen Tasche und war mit einem Mangel an Perspektive ausgestattet; ihm war klar, dass er keines der interessanten Fächer wie Medizin, Rechtswissenschaften, etc., die zu Wohlstand führen, studieren könne und dass er zu schlecht war, um Musiker zu werden, da begann er, zurückgezogen in seiner schattigen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der es damals schon so eigentümlich roch, dass sich unweigerlich der Gedanke an Frührente aufdrängte, zu lesen. Unseriöseste Werke über außersinnliche Wahrnehmung, Geistheilung und Auramassage. Je mehr er las, desto wütender wurde er. Wut. Wut auf die Menschen.

Seine mystischen Eskapaden, gepaart mit bedrohlicher geschichtlicher Halbbildung führten ihn schon in jungen Jahren also auf Abwege; er trainierte sich einen zweiten Charakter an, in den er all die ungelebten Persönlichkeitsanteile geradezu zwanghaft hineinprojizierte, wie ein berühmter Hamburger Psychologe einmal treffend diagnostizierte, wie ich meine.

Es fing damit an, dass Fritsch, in waberndem Gewande, kräftig geschminkt unter einer großen Brille mit Verlaufsgläsern, eine falsche, feuerrote Haartracht auf dem Kopf und mit schneidend hoher Stimme und ungarischem Akzent in Studentenkreisen vorstellig wurde, um stark nach Patchouli duftend zu sogenannten spiritistischen Sitzungen einzuladen, in denen er als „Medium“ zu fungieren und in Kontakt zu den Seelen Verstorbener treten zu können vorgab.

Er machte auf alte, mysteriöse Schachtel und fuhr gut damit.

Dank seiner charismatischen Art war es ihm ein Leichtes, zu willenlosen jungen Menschen zu gelangen, die er ihrer Jugend beraubte. Fritsch wurde so etwas wie ein zeitgemäßer Vampir.

Er selbst war innerlich schon im Säuglingsalter versteinert und brauchte daher junges Blut, um seiner seelischen Arthrose Einhalt zu gebieten.

Im Lauf der Jahre wurde er mit zunehmender Not sehr erfinderisch und bot vielerlei Dienste an. (Fritsch ging mit der Zeit und erfand neue Kategorien, auch um sich von der immer größer werdenden Konkurrenz abzusetzen: Chakralifting, Aura-Smalltalk, Rebirthing per E-Mail sind nur drei von vielen neuen Therapieformen, die Fritsch für den modernen Menschen erfand.)

Da stand nun Klüver, freudig entschlossen, tippte auf den Branchenbucheintrag. Dieses war der Moment, in dem Herr Scheibe einschreiten musste, um eine Katastrophe zu verhindern. Er schritt in den Frühstücksraum, setzte sich an den Flügel um zu beruhigen, Musik ist Therapie. Lass' es raus, lass' es fließen, es soll so sein wie es ist, scheiß was auf die Zwänge. Yin und Yang, alles ist, wie es ist, und der Weg ist das Ziel, nur Licht fließt durch mich hindurch. Herr Scheibe ist sehr sensibel und so wurde er melancholisch. Aber auch philosophisch. Da fing er an zu singen, den Menschen blieb das Essen im Halse stecken bei seinem bezaubernden Vortrag, der allen ans Herz ging und mit dem er den Zeigefinger in die Wunden der Gesellschaft legt, er spielte Klavier wie ein junger Gott und das Publikum klebte an seinen Lippen, um die Geschichte zu erfahren, die Herr Scheibe freundlicherweise für sie sang;

Und seid Ihr auch

von grober Art Im Geiste

Und ist euch

Auch der Feinheit Glanz

Abhold

So sei der Missklang

Zweier kranker Klänge

Euch zwein ein Auftrag;

Der Wandlung

Schmutz zu Gold

Nicht das Suchen,

Nicht das Streben,

Nicht der Wahrheit Fund

Sei Ziel

Der Seele Ruhe

Und Ihr Wogen,

Das sei Des Feinmanns Trieb und Spiel

Die Wirkung dieser magischen Worte war frappierend; als wäre nichts gewesen, ließ Klüver von seinem Vorhaben ab, der (intuitiven) Erkenntnis einsichtig, dass investigatives Treiben (Aufdeckung der Maria Galvan) hier für Fritsch desaströs wäre. So wurde die ganze Geschichte schnell vom Tisch gefegt und man widmete sich weiter seiner Art.

Prager Frühstück, 1968.

„Nun habe ich, ach ...“ Goethe, Faust I

Dem Leser sei nahegelegt, einmal über das Adjektiv modern vor dem Begriff des Moderns (im Sinne von Faulen oder Vergammeln) nachzudenken.

Mark Scheibe ist Musiker, Autor, Idol und einer der drei Feinen Herren, die zurzeit (heute und morgen um 20.30 Uhr) im Jungen Theater an der Friesenstraße Großkunst präsentieren