Press-Schlag
: Löwe von Leningrad immer noch schrecklich

■ Wiktor Kortschnoi lehrt Konkurrenten bei der Schach-WM das Fürchten

Wird Wiktor Kortschnoi mit 68 Jahren etwa müde? Trotz des dann laufenden WM-Viertelfinales des Schach-Weltverbandes FIDE hat der Altmeister für das Jules-Ehrat-Memorial gemeldet. Vom 13. bis 22. August misst sich das Schweizer Nationalteam mit einer deutschen Auswahl. Rechnet der früher so kampfeslüsterne dreimalige Vizeweltmeister mit seinem baldigen Scheitern in Las Vegas? „Ich hoffe, daß ich in Zürich nicht mitspielen kann“, wiegelt der Wohlener ab. Als eine reine Vorsichtsmaßnahme wertet Kortschnoi seine Zusage, um im Notfall gleich wieder Trost am Brett zu finden.

Am Donnerstag eliminierte der Weltranglisten-16. aber zunächst in Runde zwei den Russen Sergej Dolmatow im Tie-Break mit 3:1. Obwohl der Turniersenior nun auf den denkbar schwersten Kontrahenten trifft, amüsiert das Energiebündel der Gedanke an das Match gegen den an Nummer eins gesetzten Wladimir Kramnik: „Ich spiele praktisch gegen eine Familie“, ulkt Kortschnoi, weil sein Gegner unter den letzten 32 der Chef von Sekundant Dolmatow ist. Seine schlechte Bilanz gegen den 44 Jahre jüngeren Weltranglisten-Dritten stört den ewigen Optimisten nicht im Geringsten. „Ich habe zuletzt zu viele Partien gegen Kramnik verloren. Jetzt bin ich wieder dran!“ Danach traut Nationalcoach Jörg Grünenwald seinem im „fünften Frühling“ befindlichen Aushängeschild „mit etwas Glück“ noch weit mehr zu.

Ex-Weltmeister Boris Spasski (62), hat seine Karriere schon vor 20 Jahren abgehakt, tummelt sich lieber auf dem Tennisplatz als auf den 64 Feldern. Undenkbar für „Wiktor den Schrecklichen“. Noch „schrecklicher“ als seinen Ehrfurcht gebietenden Spitznamen fände der vierfache sowjetische Champion den Gedanken, jenseits der 60 im willigen Fleisch einen schwachen Geist zu beherbergen. Sicher, mittlerweile gönnt sich der Eidgenosse zur Entspannung des Abends einen Krimi anstatt Eröffnungsvarianten. Aber schnelle Unentschieden? Wenn einer wie Jungstar Peter Leko nichts dabei findet, stempelt ihn der Grandseigneur schon einmal als „feige“ ab und ergänzt: „Leko muß noch viel lernen.“ Was der Ungar bisher gelernt hat, reichte immerhin, um mit einem Sieg gegen den Franzosen Bauer ebenfalls die 3. Runde in Las Vegas zu erreichen.

Kampf kennt Viktor Kortschnoi – der beste Spieler aller Zeiten, der nie Weltmeister wurde – seit seinem zwölften Lebensjahr. Im belagerten Leningrad trotzte er Hunger und Kälte mit dem Studium des Lehrbuchs von Dufresne. Die Partien und Varianten in dem deutschen Standardwerk spielte er im Kopf nach, weil es selbst an einem Schachbrett und Figuren mangelte. Die Not prägte, Kortschnoi spielte fortan auch schlechte Stellungen kompromisslos auf Gewinn, denn für Siege, die er gerne gestenreich kommentiert, gibt es keinen Ersatz. Mit 68 leide allerdings der Siegeswillen etwas, behauptet die Schach-Koryphäe trotz ihrer bisherigen WM-Bilanz ohne ein einziges Remis. Siegeswillen sei nämlich mit „Feindschaft“ verbunden – und „dieses Gefühl haben ältere Leute nicht mehr nötig“.

Die Frage, wann Kortschnoi in Rente gehe, ist müßig. „In was?“, entfährt es dem Schach-fanatiker, als habe er soeben einen ungeheuerlichen Zug vorgesetzt bekommen. Nein, nein, nicht einmal an die Teilnahme bei Seniorenturnieren denke er. „Das ist etwas für Karpow“, amüsiert sich Kortschnoi über den Gedanken, dass stattdessen sein 48-jähriger Erzrivale nach dem WM-Titel der Alten Herren greifen soll. Bissig kommentiert der Wohlener gleich hinterher die Absage des Titelverteidigers in Las Vegas: „Karpow ist realistisch genug, seine Chancenlosigkeit zu erkennen.“

„Obwohl ich alt bin, darf mir niemand den Finger in den Mund stecken, sonst beiße ich“, hat Wilhelm Steinitz, der erste Weltmeister der Schach-Historie, einmal gesagt. Die Warnung des „Löwen von Leningrad“ klingt ähnlich: „Die Jungen erwarten, daß Opa einfach umfällt. Dann aber kann Opa fünf Stunden lang Schach spielen und die jungen Gegner an die Wand drücken.“ Als Nächster soll der 1,95 Meter große Kramnik an der Wand kleben. Anschließend Zürich ade!

Hartmut Metz