Psychiater werden zu Mördern

Ausstellung „In Memoriam“ im Audimax der Hamburger Universität spürt der Psychiatrie in der Nazi-Zeit nach – auch in der Hamburger Universitätsklinik  ■ Von Djura Thormählen

Warum wurden aus gut ausgebildeten Ärzten und Psychiatern Mörder? Michael von Cranach weiß die Frage, die er sich seit zwanzig Jahren stellt, bis heute nicht zu beantworten. Anfang der Achtziger wurde der Psychiater Leiter des psychiatrischen Bezirkskrankenhauses in Kaufbeuren. Sein damaliger Auftrag: die Psychiatriereform einzuleiten. Das heißt, die großen Verwahranstalten am Rande der Städte zu regionalisieren, gemeindenahe Alternativen wie therapeutische Wohngemeinschaften zu gründen und ambulante Hilfen auszubauen. Kurz, die psychisch Kranken in die Gesellschaft zu integrieren.

„Mir wurde schnell klar, dass das nicht gelingen konnte, solange wir uns nicht mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigten“, sagt von Cranach. Denn wie sollen Patienten und Angehörige Vertrauen zur neuen Pychiatrie aufbauen, wenn diese nicht glaubhaft eine Zäsur zum damals Geschehenen herstellt, fragt er.

Also gründeten Mitarbeiter des Krankenhauses Kaufbeuren eine Arbeitsgruppe, untersuchten die alten Patientenakten im Keller und rekonstruierten Opfer- als auch Täterbiographien. Die Ergebnisse der Untersuchung hat von Cranach jetzt in der Ausstellung „In Memoriam“ zusammengestellt, die im Rahmen des Weltkongresses für Psychiatrie im Audimax der Universität Hamburg bis Mittwoch abend zu sehen ist. Die Ausstellung gliedert sich in drei Teile: die Schilderung des Euthanasieprogrammes anhand von Dokumenten, eine Serie von Bildern des Photographen Ray d'Addario vom Nürnberger Ärzteprozess und Kunstwerken von Beate Passow.

Zwanzig bis dreißig Anrufe von Angehörigen, die das Schicksal ihrer psychisch kranken Familienmitglieder klären wollen, erhält von Cranach monatlich. „Viele Familien trauen sich erst jetzt anzurufen“, sagt er. Wie die Psychologin aus Israel, die nach ihrer Tante fahndet, die 1934 als junge Frau nach Kaufbeuren eingewiesen wurde. Anfänglich hielt die Familie engen Kontakt zur Kranken, doch nach der überstürzten Flucht 1941 haben sie nichts mehr von ihr gehört. Die schreckliche Antwort: Die junge Frau wurde von Kauf-beuren in ein polnisches Vernichtungslager deportiert.

Über 200.000 als psychisch krank geltende Menschen wurden im Nationalsozialismus getötet, unzählige mehr noch sterilisiert. „Ich wollte diese dunkle Seite der Psychiatrie zur Sprache bringen und in den Dialog mit den Kollegen treten“, sagt von Cranach. Selbstverständlich ist das nicht. Bis Anfang der Achtziger, in manchen Krankenhäusern gar bis heute, wurde die mörderische Seite der Psychiatrie totgeschwiegen oder gar verleugnet.

In Hamburg behauptete Hanns Bürger-Prinz, der die psychiatrische Klinik der Hamburger Universität von 1936 bis in die siebziger Jahre leitete, noch 1970, dass es ihm gelungen sei, Tötungen und Sterilisationen von als psychisch krank geltenden Menschen in Hamburg und Umgebung verhindert zu haben. Angeblich Dank seiner guten Beziehungen zum Hamburger Gauleiter Kaufmann. Erst Jahre später konnte seine Behauptung widerlegt werden. Junge Hamburger Assistenzärzte wiesen in hartnäckiger Aktenarbeit nach, daß in Hamburg 20.000 Kranke sterilisiert worden sind und als unheilbar krank eingestufte Patienten in psychiatrische Tötungsanstalten verlegt wurden: Aus Hamburg-Langenhorn (seit 1934 Ochsenzoll) nach Meseritz-Obrawalde, aus der evangelischen Stiftung Alsterdorf nach Kalmenhof, Eichberg und Wien. Im Hamburger Kinderkrankenhaus Rothenburgsort wurden 56 Kinder direkt getötet.

„Das Universitätskrankenhaus Eppendorf beteiligte sich an dem sogenannten Vernichtungsweg“, sagt Friedemann Pfäfflin, Leiter der Forensischen Psychotherapie an der Uniklinik Ulm, der damals die Akten mit untersuchte. Begutachteten die Uni-Psychiater die Patienten als unheilbar krank, wurden sie zunächst nach Langenhorn verlegt, wo die ärztliche Betreuung nach einem Beschluß des Senates der Stadt Hamburg von 1934 „auf ein vertretbares Mindestmaß herabgesetzt werden“ sollte. Von dort wurden die Entkräfteten dann in die Psychiatrien mit Vergasungseinrichtung deportiert.

Und noch etwas fand Pfäfflin bei seinen Recherchen heraus: Die Sterberate war in der psychiatrischen Klink der Universität auffallend hoch. In einigen Monaten starben bis zu 14 Prozent der aufgenommenen Patienten einen bis heute ungeklärten Tod.

„Es besteht der begründete Verdacht, dass dort Menschen aktiv getötet wurden“, sagt Dieter Naber, jetziger ärztlicher Direkor der psychiatrischen Klinik. Er hat einen Assistenzarzt und zwei Doktoranden damit beauftragt, die Akten zu untersuchen. Eine umfangreiche Arbeit, die eigentlich zwei hauptamtliche Mitarbeiter erfordern würde, sagt er. Sobald die Untersuchung abgeschlossen sei, werde dann eine Gedenktafel in den Eingangsbereich der Psychiatrie gehängt.

Selbst das ist 54 Jahre nach Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland nicht selbstverständlich. Das anatomische Institut der Universitätsklinik Eppendorf weigert sich bis heute, an die anatomische Gipsmodellsammlung, für die unter anderem Leichen aus dem KZ Neuengamme verwandt wurden, eine Tafel zum Gedenken an die Opfer zu installieren. Eine universitäre Kommission tagt dazu seit mittlerweile knapp zehn Jahren.

„Wir müssen das Vorgefallene dokumentieren, auch wenn wir es nicht begreifen“, sagt von Cranach und verweist auf den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der als Chronist den Nürnberger Ärzteprozess beobachtete. Mitscherlich schrieb 1947: „Ihre Untaten waren von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, daß niemand ohne tiefste Scham darüber zu lesen vermag. Die Verpflichtung zur Klärung des von uns Verübten wird damit zu einer so schweren moralischen Last, daß unser geschichtlicher Fortbestand von ihrer Bewältigung abhängt.“