Mordanschlag kurz vor dem Generalstreik

■ Am Samstag wurde der türkische Gewerkschafter Semsi Denizer erschossen

Istanbul (taz) – Es war wie eine Hinrichtung. Am frühen Samstagmorgen wurde der beliebteste Gewerkschaftsführer der Türkei, Semsi Denizer, vor seinem Haus durch sechs Schüsse in den Kopf regelrecht exekutiert. Der Täter wurde unmittelbar nach der Tat festgenommen und die Polizei konnte gerade noch verhindern, dass er sich selbst ebenfalls erschoss. Als Motiv gab der Mordschütze Cengiz Balik an, Denizer habe ihm 40 Millionen Lira (rund 180 Mark) geschuldet.

Der auch „Lech Walesa der Türkei“ genannte Denizer war Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is und gleichzeitig Vorsitzender der Bergbaugewerkschaft, Maden-Is. Er wurde bekannt, als er Anfang der 90er Jahre den Kampf der türkischen Bergarbeiter gegen die Privatisierung der türkischen Kohlegruben anführte. Von Zonguldag aus, der Stadt am Schwarzen Meer in deren Umgebung das größte Kohlerevier des Landes liegt, organiserte er einen legendären Marsch auf die hauptstadt Ankara.

Gestern sollte er auf der Generalversammlung von Maden-Is als Vorsitzender wiedergewählt werden. Stattdessen säumten tausende Menschen die Straßen von Zonguldag, dem Heimatort von Denizer, um ihm das letzte Geleit zu geben.

Die meisten türkischen Gewerkschafter sind davon überzeugt, dass der Todesschütze Cengiz Balik im Auftrag politischer Gegner von Denizer handelte. Auf Betreiben von Denizer bereitete sich Türk-Is gerade auf einen Generalstreik vor, um eine neue Sozialgesetzgebung der Regierung Ecevit zu verhindern.

Von den drei türkischen Gewerkschaftsdachverbänden ist Türk-Is der zahmste. Noch vor zehn Jahren galt Türk-Is als gelbe Gewerkschaft. So hatte auch jetzt der Vorsitzende Bayram Meral bereits einen Kompromiss mit Regierungschef Bülent Ecevit ausgehandelt. Er war aber von seiner eigenen Gewerkschaftsbasis unter Führung von Semsi Denizer gestoppt und auf Konfrontationskurs gezwungen worden.

Der eintägige Generalstreik sollte eigentlich schon am vergangenen Freitag stattfinden, war aber verschoben worden, weil das Parlament seine Beratungen über den Gesetzentwurf vertagt hatte.

Nach Informationen der türkischen Presse hat Denizer seinem Killer, den er seit langem kannte, noch zugerufen: „Wieviel haben sie dir bezahlt?“ Auch Bayram Meral sagte in einer ersten Stellungnahme, das angebliche Motiv des Täters sei nicht glaubwürdig, da stecke „etwas anderes dahinter“. Der Killer Cengiz Balik hat bereits wegen eines Tötungsdelikts im Gefängnis gesessen und war erst vor kurzem wegen guter Führung auf Bewährung entlassen worden.

Die Polizei hat angeblich bereits einen zweiten Mann verhaftet, der an dem Attantat beteiligt gewesen sein soll. Zeitungen berichten, Balik habe kurz vor dem Mord von seinem Mobiltelefon aus 25-mal mit ein und derselben Nummer telefoniert.

Bislang ist aber über Hintermänner des Anschlags noch nichts bekannt geworden. Einige Zeitungen spekulieren über Mafiazusammenhänge.

Bei der von der Regierung geplanten Änderung der Sozialgesetzgebung geht es vor allem um eine Heraufsetzung des Rentenalters. Die Rente spielt in dem ansonsten nicht gerade üppigen türkischen Sozialsystem eine Sonderrolle. Bislang kann sich jeder, der 15 Jahre gearbeitet hat, auszahlen lassen und in eine bescheidene Rente gehen.

Dieser Luxus soll nun vor allem auf Forderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) gestrichen werden. Das neue Gesetz sieht vor, dass türkische ArbeitnehmerInnen wie in Europa erst mit 60 in Rente gehen dürfen.

Da die Türkei dringend auf neue IWF-Kredite angewiesen ist, ist die Verabschiedung des Gesetzes für Ministerpräsident Ecevit von zentraler Bedeutung.

Jürgen Gottschlich

Die meisten Gewerkschafter sind überzeugt, dass der Todesschütze im Auftrag politischer Gegner von Denizer handelte