„Lagerbildung ist unfruchtbar“

■ Psychiater Michael Krausz warnt vor einer Verschiebung der Forschung auf biologische Ansätze. Er verweist auf die Erfolge der Sozialpsychiatrie

Michael Krausz, Spezialist für Sucht- und Schizophrenieforschung an der Universität Hamburg, leitet das Öffentlichkeitskomittee des 11. Weltkongresses für Psychiatrie.

taz: Die Psychiatrie lebt vom Gespräch zwischen Arzt und Patient. In Hamburg sind 9.000 Psychiater aus 141 Ländern zusammengekommen. Wo sind die Betroffenen?

Krausz: Der Weltkongress ist eine Veranstaltung für Wissenschaftler, die versuchen, über alle kulturellen und sprachlichen Barrieren hinweg miteinander zu reden. Patienten spielen hier – als aktive Teilnehmer – sicher nicht die Hauptrolle. Wir haben zwar Mitglieder von internationalen Angehörigengruppen eingeladen und in die Symposien integriert. Aber es ist ein überhöhter Anspruch, auf wissenschaftlichen Veranstaltungen die gleichberechtigte Patientenperspektive einzufordern. Dafür gibt es andere Tagungen.

Der Gegenkongress wirft den deutschen Psychiatern vor, sich nicht von der Massenmorden an psychisch Kranken im Dritten Reich distanziert und dafür entschuldigt zu haben.

Ich finde das wenig hilfreich. Der Vorwurf würdigt die Aufarbeitung der Nazi-Psychiatrie, die in den letzten zwanzig Jahren stattgefunden hat, zu wenig. Viele Sozialpsychiater haben nach der Verantwortung des Faches gefragt und sich überlegt, wie man einen derart radikalen Missbrauch von Wissenschaft durch faschistoide Systeme zukünftig verhindern kann.

Daß der Weltkongress ertmals in Deutschland stattfindet, wird von den Veranstaltern als internationale Anerkennung für eine neue deutsche Psychiatrie bezeichnet. Was ist damit gemeint?

In den letzten 25 Jahren wurde die Verwahrpsychiatrie in großen Anstalten jenseits der Städte aufgegeben und versucht, die Menschen zurück in ihre Umgebung zu führen. Insofern hat sich die Sozialpsychiatrie durchgesetzt. In der Behandlung versuchen wir Psychotherapie, Psychopharmakotherapie und soziale Unterstützung zu kombinieren. Außerdem hat sich Verhältnis von psychisch Kranken, Professionellen und Angehörigen verändert: Wir arbeiten in gemeinsamen Psychoseseminaren oder bei der Familienarbeit partnerschaftlicher zusammen.

Auf dem Kongress hört man allenthalben, daß vor allem die biologische Forschung gefördert wird ...

Das ist ein riesiges Manko. Zwar hat sich die sozialpsychiatrische Versorgung mit der außerstationären, ambulanten Behandlung durchgesetzt, doch eine Förderung für klinische oder versorgungsorientierte Forschung existiert in Deutschland letztlich nicht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert nur Grundlagenforschung.

Besteht die Gefahr, dass die Kranken wieder durch die biologische Brille gesehen werden?

Sicherlich ist das Risiko groß, wenn die Forschung die biologischen Ansätze überbetont und wenn Psychopharmaka verabsolutiert werden. Das führt auch zu einer bestimmten Sozialisation der Wissenschaftler: Kann ich die Projekte, die mich interessieren, nicht realisieren, verschiebe ich meine Schwerpunkte auf das, was gewünscht wird.

Vor welchen Herausforderungen steht die Psychiatrie in den nächsten Jahren?

Erstens müssen die verschiedenen Behandlungsansätze der unterschiedlichen Schulen integriert werden. Die bisherige Lagerbildung ist unfruchtbar. Zweitens muss in vielen Ländern das psychiatrische Hilfssystem aufgebaut werden und die ambulanten gemeindenahen Programme gestützt werden. Drittens müssen wir die Kooperation mit den Hausärzten verbessern, die momentan 75 Prozent der psychisch Kranken behandeln. Und viertens muss verhindert werden, dass die Mittel für die Psychiatrie gekürzt werden und das Erreichte zerstört wird.

Interview: Djura Thormählen