„Eine Weißwäscher-Konferenz“

■ Parallel zum Weltkongress hielten „Psychiatrie-Erfahrene“ einen kleinen Gegenkongress ab. Sie planen ein Russel-Tribunal

„Das da drüben ist eine Weißwäscher-Konferenz.“ Mit dem Weltkongress der Psychiatrie soll die deutsche Vergangenheit entsorgt werden, behauptet René Talbot, Präsident des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE). Indem der Welt-Psychiatrie-Verband auf deutschem Boden tagt, „erkennt er das Massenmorden des Nationalsozialismus an“.

Talbot geht noch weiter: Die internationale Psychiatrie „steht in faschistischer Tradition“. Einweisungen in geschlossene Abteilungen, Elektroschocks, Fesselungen, gewaltsame Drogierung – Auseinandersetzung mit ihren Zwangsmitteln sei der Psychiatrie ein Tabu. Nur deshalb habe der Welt-Psychiatrie-Verband keine Betroffenen-Verbände eingeladen.

Nicht, dass Talbot Wert auf Kontakt legt: „Die Psychiater sind die Täter, mit denen die Opfer nie sprechen werden.“

100 Meter Luftlinie vom Tagungsort der Weltpsychiatrie entfernt veranstaltet der BPE zusammen mit der „Israeli Associaton Against Psychiatric Assault“ in den Räumen der Universität Hamburg daher an diesem Wochenende einen Gegenkongress. Vielmehr: ein Gegenkongresslein, denn mehr als 35 Leute sind zu kaum einem Zeitpunkt anwesend.

Es sind Zeugen des Nationalsozialismus gekommen: Unter ihnen Otto Klein, Überlebender der Zwillingsversuche Dr. Mengeles, und Elvira Manthey, die dem Euthanasie-Programm als Kind entkam (siehe Porträt Seite 11). Zweiter Schwerpunkt der Veranstaltung ist die Kritik an der Psychiatrie. Den Vortrag, der beides verbindet, hält der Journalist und Sozialpädagoge Ernst Klee. Ebenso, wie die Beseitigung psychisch Kranker nicht erst von den Nazis gefordert wurde, ging das Morden mit dem Nationalsozialismus nicht zu Ende: Klee verweist auf Daten, wonach in den psychiatrischen Anstalten noch bis 1947 Menschen verhungern mußten. Seine These: „Nicht die Nazis brauchten die Psychiater, sondern die Psychiater brauchten die Nazis.“ Psychiatrie, sagt die Berliner Soziologin Gerburg Treusch-Dieter am nächsten Abend, ist „etwas, das sich gegen die Psyche richtet.“ Es gehe nicht darum, den Menschen zu helfen: Geisteskrankheit ist eine Fiktion, Psychiatrie „das Legitimationswissen von Justiz und staatlicher Verwaltung“, soziale Kontrolle das einzige Ziel.

Es gibt Statistiken, die auf Widersprüche in der bundesdeutschen Psychiatrie hinweisen. Zwangseinweisungen in der Republik sind höchst ungleich verteilt: In Köln werden doppelt so viele Menschen pro Jahr in die Psychiatrie eingewiesen wie in Bremen; 1987 waren es in Köln 157 auf 100.000 Einwohner, in Bremen nur 77 auf 100.000. In Köln werden bei 32 Prozent der Eingewiesenen Psychosen diagnostiziert, in Bremen bei 68 Prozent. Der Bremer Psychotherapeut Georg Bruns hat daraus den Schluss gezogen, dass Zwangseinweisungen oft „nicht medizinisch begründet sind, sondern willkürlich bei lediglich störendem Verhalten eingesetzt werden“.

Wann ein Verhalten lediglich stört, wann es für andere nicht mehr erträglich ist und wann es für alle Beteiligten gefährlich wird sind Fragen, die nach Ansicht Talbots nicht über den psychiatrischen Apparat aus Verwaltung, Justiz und Medizin zu lösen sind. Das Argument, dass Depressive und Schizophrene sich umbringen, wenn man sie davon nicht abhält, läßt er nicht gelten. „Wer einen systematischen Selbsttötungswillen hat, den wird man nicht aufhalten können. Durch die Psychiatrie bringen sich mehr Leute um als ohne.“ Menschen mit Psychosen bräuchten Zuwendung, keine Neuroleptika.

Für Mitte des kommenden Jahres plant der BPE ein „Russel-Tribunal“, auf dem Menschenrechtsverletzungen der Psychiatrie angeklagt werden sollen. Talbot hofft, die Jury „prominent“ besetzen zu können. Dann wäre das Interesse auch größer als hier, im Schatten des Weltkongresses.

Ulrike Winkelmann