Liebesprojekt, Berufs- und Karriereberatung

■ Im virtuellen „Berliner Zimmer“ treffen sich Jungschriftsteller und versenden Literatur

Jana ist eine strenge Kritikerin: „Ich vermisse sehr die Verdichtung, Steigerung! Wo ist die Pointe, oder vielmehr, was war der Grund, weshalb du diese Geschichte erzählen musstest?“ Wer seine Texte ins „Forum“ der Website berlinerzimmer.de stellt, muss auf scharfe Reaktionen gefasst sein. Matthias Weishaupt etwa hatte unter dem Titel „Einsam“ eine kurze Betrachtung über einen einsamen Mann am Fenster geschrieben. Jetzt soll er sich vor der halbanonymen Kritikerin Jana rechtfertigen, für die Gründe seines Schreibens und für die Gründe seines Schlecht-Schreibens, wie sie findet, auch. Das „Forum“ ist nur ein Teil des Online-Literaturprojekts Berliner Zimmer, das Sabrina Ortmann und Enno E.Peter, beide inzwischen professionelle Web-Designer, Online-Journalisten und Autoren, vor gut einem Jahr ins Leben gerufen und seitdem gepflegt und kontinuierlich erweitert haben.

Es gibt außerdem kommentierte Links und Texte zum literarischen Geschehen im Internet, das Online-Magazin „Erosa“ für erotische Literatur, eine sogenannte „Berufs- und Karriereberatung“ für Internetamateure und eine Seite, auf der Berliner Künstler ihre Bilder ins Netz stellen können. Zur Zeit stellt hier Birgit Helterhoff ihre allerdings wirklich mächtig kitschigen Bilder aus.

Auch sonst ist es anfangs ein bisschen mühsam, sich durch manchen Unsinn, Kitsch und Langweiligkeit zu hangeln. Irgendwie möchte man heute als empfehlenswerte Berlin-Literatur wirklich nicht mehr Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Franz Hessels „Ein Flaneur in Berlin“ angepriesen bekommen.

Auch wenn der Hinweis von Sabrina Ortmann zu dem Hessel-Kompendium, „zu diesem Buch habe ich eine Seminararbeit geschrieben“, natürlich auch wieder sympathisch ist. Sehr nützlich und schön zum Rumschauen sind dafür die gut geordneten Links, die zum Beispiel eine große Zahl von Autoren-Homepages versammeln, außerdem auf Literaturforen, Rezensionen, literarische Internetprojekte und Veröffentlichungsmöglichkeiten im Netz hinweisen. Die Autoren werden etwa so vorgestellt: „Matthias Zarbock: Ernste Texte und Essays. Der Mann weiß, was er tut.“ Oder zu Günther Metzger heißt es: „Vielleicht der vielseitigste Mensch, den ich im Internet gefunden habe.“ Benedikt Meyer: „typisch deutsche, technikfeindliche, egozentrische und andere Texte“. Und wenn man Glück hat, beschweren sich die solcherart kategorisierten Autoren dann im Forum.

Übrigens, wenn Sie das hier interessiert, ist das Berliner Zimmer auch ein Liebesprojekt, wie man sagen könnte. Denn es entstand aus der Zusammenführung der beiden Homepages von Sabrina und Enno, die zunächst ihre gegenseitigen Seiten und dann auch sich selbst hochinteressant fanden. So Sachen kann man im Berliner Zimmer auch erfahren. Und das macht es zu einem so besuchenswerten Projekt: dieses direkte Nebeneinander von Subjektivität und objektiver Katalogisierung und Archivierung, von Privatheit und Öffentlichkeit, von Ordnungsbemühungen und Offenheit für alle. Volker Weidermann