Brillen sind Mangelware

■  Morgen wird es in Berlin nur halb dunkel, doch guter Augenschutz ist inzwischen so selten wie die Sonnenfinsternis selbst

Der Sonnenbrillen-Notstand ist ausgebrochen: Wenn morgen zwischen 11.21 und 13.59 Uhr ein großer Teil der Sonne hinter dem Mond verschwindet, werden die meisten Berliner ihren Blick gesenkt halten müssen. Die Optiker melden den totalen Ausverkauf der besonders dunklen und verspiegelten Pappbrillen. Wer eine Brille hat, muss also Obacht geben, dass er nicht von einer Meute finsternishungriger Hobbyastronomen überfallen wird.

Zum Glück gibt es Alternativen. Extrem dunkle Elektroschweißbrillen können Abhilfe schaffen. Vorsichtig sein sollte man jedoch mit ultraleichten und goldbeschichteten Rettungs- und Wärmedecken als Brillenersatz. Doppelt gelegt können sie das Auge maximal zwei Minuten vor der Sonne schützen. Bei der letzten partiellen Sonnenfinsternis 1954 gab es über 50 Fälle von Augenschäden, meldet die Charité. Die Augenabteilung des Virchow-Klinikums am Augustaplatz wird morgen mit einem verstärken Ärzteteam bereitstehen.

Die Hauptstadt wird wie 1954 wieder nur eine partielle Sonnenfinsternis erleben – der Mond verdeckt dabei nur etwa 87 Prozent der Sonnenscheibe. So zappenduster wie in Süddeutschland wird es an der Spree also nicht. Manche Experten befürchten gar, dass mehr als ein leichte Verdunkelung wie unter einer dicken Wolke nicht zu merken sein wird.

Wird der Mega-Event folgenlos bleiben? Die hiesigen Unternehmen jedenfalls lassen sich von der nationalen Sonnenhysterie nicht anstecken. Obwohl Gewerkschaften sie aufgefordert haben, ihren Mitarbeitern den Blick in die verdeckte Sonne zu gestatten, sehen die großen Firmen keine Sonderregelungen vor.

Am schlimmsten trifft es die U-Bahn-Fahrer. Sie müssen im Dunkeln bleiben, erklärt eine Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Die Fahrpläne werden wegen der Finsternis also nicht aus dem Takt geraten, verspricht sie. Beim Chemiekonzern Schering setzt man auf informelle Absprachen. Wer das Naturereignis sehen will, soll in der Zeit seine Pause nehmen, sagt Schering-Sprecher Michael Langenstein. Er selbst will sich die Finsternis erst am Abend im Fernsehen anschauen. „Da gibt es sowieso die besten Bilder.“

Glück haben jene Angestellten und Beamten im Rathaus Charlottenburg, die seit Monaten mit einem Baugerüst vor ihrem Fenster leben müssen. Sie hat Baustadträtin Beate Profé von den Grünen eingeladen, zur Sonnenfinsternis den Rathausturm zu besteigen – als kleinen Ausgleich für die gerüstbedingte Sonnenarmut in den Dienstzimmern.

Wer die totale Sonnenfinsternis in München, Stuttgart oder Karlsruhe erleben will, könnte Probleme mit dem Transport bekommen. Die Sonderzüge der Deutschen Bahn sind praktisch ausgebucht und auch bei den Airlines ist kaum noch ein Sitzplatz zu ergattern. Wer es dennoch schafft, sollte ein Zelt mitnehmen: Sämtliche Hotels in der Schattenschneise sind ausgebucht.

Achtung: Wer zufällig einen Privatjet sein Eigen nennt und jetzt gerade daran denkt, morgen zu einem mittäglichen Rundflug über die bayrische Landeshauptstadt zu starten, sei gewarnt. Fliegen darf an diesem besonderen Tag nämlich nur, wer eine Nachtfluglizenz besitzt.

Tierfreunde können die Finsternis mit einem Besuch im Zoo verbinden. Niemand weiß, wie Tiere auf die plötzliche Verdunkelung reagieren. Doch Matthias Lechner-Boll vom Institut für Zoo- und Wildtierforschung hält ein mittleres Spektakel für wahrscheinlich. „Einige Tiere werden glauben, es sei Abend“, meint er. Zusammen mit dem leichten Temperaturabfall könnte die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit für einige Verwirrung im Zoo sorgen.

Während die meisten dem Naturschauspiel voller Spannung entgegensehen, bekommen es andere mit der Angst zu tun. Unheil werde über die Menscheit kommen, verkünden selbst ernannte Seher schon seit Monaten. Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin, rät, mit Freunden zu sprechen und sich die Finsterniss gemeinsam mit ihnen anzuschauen. Aber auch eine Warnung gibt es: „Setzt gute Brillen auf!“, und einen Trost für allzu Ängstliche: „Moses, Kapitel 8, Vers 22: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Amen.“

Thorsten Denkler