Paranoia + Pathologie

Laborant des Horrors, der von Innen kommt: David Cronenberg in der Retrospektive des Fantasy Filmfests  ■ Von Oliver Rohlf

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ür einen Regisseur wie David Cronenberg fliegt so manchem Schauspieler der Kopf weg. Beim Duell der Gedanken in Scanners riskierten mit Louis Del Grande und Michael Ironside gleich zwei Akteure wahrhaftig Kopf und Kragen. Der kanadische Filmphantast ließ die beiden Männer vor laufender Kamera gegeneinander antreten, ihre telepatischen Kräfte auf Biegen und Brechen aneinander messen. Was dabei herauskam, ist für Cineasten aller Klassen seit gut 20 Jahren eine Erscheinung von nahezu ikonographischem Gehalt. Die Zeitlupenaufnahme von Del Grandes explodierendem Schädel hat den paranoiden Science-Fiction-Thriller von 1980 mehr geprägt als Cronenbergs ungleich subtilere Überlegungen rund um den Horror, „der von Innen kommt“. Der hochgewachsene Filmemacher aus Toronto betreibt in den meisten seiner bislang 15 Zerstörungs-Epen den faktischen wie physischen Zusammenbruch jeglicher Einheit von Körper und Geist mit Hilfe eines schillernd artikulierten Faibles für körperhafte Wucherungen, Pathologie und sexuelle Ausschweifungen.

Die Macher des Fantasy Filmfests präsentieren sich seit Jahren als treue Cronenberg-Apologeten. Nach dem 79er Familienfluch The Brood, dem Zwillingsdrama Dead Ringers von 1988 oder der Burrouhgs-Verfilmung Naked Lunch aus dem Jahr 1991 zeigt das Festival neben der Erstaufführung des Virtual-Reality-Schockers Existenz eine vierteilige Hommage an den 56jährigen Horror-Organiker, der das Genre wie ein weißbekittelter Labor-Ästhet auseinandernahm. Neben den Klassikern Scanners und Videodrome stehen zwei frühere Werke im Mittelpunkt.

Shivers – The Parasite Murders von 1975 war Cronenbergs erster professioneller Spielfilm von abendfüllender Länge. Nach fast einem Dutzend Kurzfilmen thematisierte der Autodidakt darin erstmals seine Vorliebe für Biologie und Parasitenkunde. Der Film beginnt mit einer verstörend-fetischisierten Mordszene: Ein älterer Mann überfällt eine junge, schulmädchenhaft gekleidete Frau in ihrem Zimmer, würgt sie, bis sie bewußtlos ist, und knebelt sie mit Klebestreifen. Wenn er ihr dann noch die Kleider auszieht, ihre Bauchdecke mit einem Skalpell öffnet und sich anschließend per Kehlschnitt selbst richtet, scheint die Täter-Opfer-Konstellation klar: Was der Zuschauer aber nicht ahnt, ist, dass die junge Frau einen leicht übertragbaren und äußerst aggressiven Parasiten in sich trägt, der das sexuelle Verhalten der Infizierten hemmungslos mutieren lässt.

Nach der oralen Infizierung wandert der wurmartige Schmarotzer durch die Organlandschaft seiner Wirtsleute, um sie zu aphrodisieren. Dann nämlich treten all die bürgerlich verbrämten Lust-Praktiken ans gleißende Tageslicht: Lesbische Liebe, Pädophilie, Inzest oder Sex zwischen jung und alt. Obgleich aggressiv und mitunter destruktiv besetzt, richten die Ausschweifungen weit weniger Schaden an, als man vermuten könnte. In der Trias von oraler Aufnahme, Exzess und physischer Ausscheidung konstituiert sich für Cronenberg eine reale wie mögliche Form von Sexualität. Sexuelle Vervollkommnung und Zerstörung gehen ineinander über. Cronenberg präsentiert sich dabei als Moralist der offenen Fragen, der anstelle von Antworten einen schockschweren Bildersturm anbietet.

In Rabid von 1976 vereint Cronenberg das Vampirmotiv mit Elementen des Seuchendramas und einer später umsichschlagenden Splatter-Ästhetik. Rose überlebt einen schweren Motorradunfall nur dank einer Nottransplantation. Eine Operation mit Folgen: Rose kann sich nur noch vom Blut anderer Menschen ernähren und saugt ihren Opfern das Lebenselexier mit Hilfe eines penis-artigen Organs in der Achselhöhle ab. Durch den Stich überträgt sich eine tödliche Epidemie, die die Opfer wahnsinnig und aggressiv werden lässt. Cronenbergs Low-Budget-Produktion sorgte weniger durch ihre filmische Meisterschaft als durch die ungewöhnliche Besetzung der weiblichen Hauptrolle für Furore. Für die Figur der Rose wählte Cronenberg die amerikanische Hardcore-Darstellerin Marilyn Chambers aus, die in einer ihrer wenigen Nicht-Porno-Rollen eine tragische Vampirfigur spielt. Ein Exploitation-Kalkül, das teilweise nach hinten losging: Rabid bekam schnell einen schlechten Leumund, der nicht nur den Film an der Kinokasse zum Flop machte, sondern auch Cronenbergs Vermieterin veranlasste, ihm die Wohnung fristlos zu kündigen. Offenbar eine Moralistin, die ihre Antworten schon gefunden hatte.

Existenz: Do, 12., 22.45 Uhr

Shivers: So, 15., 16 Uhr

Scanners: Mo, 16., 16 Uhr

Rabid: Di, 17., 16 Uhr

Videodrome: Mi, 16. August, jeweils Cinemaxx