Kleine Geschäfte

■ Dringender Anruf aus Weißrussland oder Eine Kommune braucht Parkuhren

Zu Anfang war es nur ein Witz: Ira, Physikerin und Kinderbuchautorin aus Krasnojarsk, mit einem Kind, das aufs Jüdische Gymnasium geht, kam nicht mehr mit der Sozialhilfe hin und liebäugelte mit kleinen Geschäften nebenbei. Sie dachte dabei an eine Art Import-Export-Vermittlung. Als ihr Partner bot sich ein Schwager von der unteren Wolga an. Schon bald gingen ganze Lkw-Ladungen von Mahlsdorf nach Russland: „Na ja, zwei!“ Immer neue Großhändler, bis hinter den Ural, baten sie um Zusammenarbeit.

Einmal schaltete sie mich ein: „Recherchier das doch mal für mich – da kostet ein Putzmittel aus Bochum 2 Mark der halbe Liter, lass dir ein Angebot geben für eine größere Stückzahl.“ Auch und erst recht bei einem Freundschaftsdienst wollte ich gründlich sein und diskutierte zunächst mit einem abgewickelten Detergenzienforscher der DDR-Akademie der Wissenschaft die Waschkraft – das Preis-Leistungs-Verhältnis quasi. Über ihn gelangte ich an einen Köpenicker Neuunternehmer, der Reinigungsmittel auf Naturölbasis produzierte und große Mengen Sonnenblumenöl brauchte. Ira machte ihm daraufhin prompt ein interessantes Angebot von einer Ölmühle bei Saratow – frei Haus. Der Köpenicker beschäftigte einen Russlanddeutschen, dessen Frau gelegentlich den durchgehenden Zug Berlin – Saratow benutzte. Beim nächsten Mal baten wir sie, Ölproben aus der dortigen Mühle mitzubringen. Danach hing auch sie mit in Iras Geschäft drin. Es ging dabei stets um Prozente und Subprozente – um die Vermittlungsprovision.

Plötzlich bekam Ira einen Anruf aus Weißrussland: Sie sollte einem Kommunalbeamten beim Kauf von Parkuhren helfen. Wieder musste ich recherchieren. Ira wurde unterdes schriftlich zur Regierungsbeauftragten erklärt: „Allein kann ich das besser machen, dem Beamten geht es sowieso nur um seine Provision.“ „Bestechung?“ „Wie auch immer, findest du das unmoralisch?“ „Vom Beamten schon“. „Das ist in etwa auch die Linie des Bonner Wirtschaftsministeriums.“ Ich erschrak. Ira kam auf ihr Thema zurück: „Das Problem bei diesem Geschäft ist, wir brauchen erst einen Kredit von hier, um die Parkuhren zu bezahlen.“ „Ich bin nicht mehr kreditwürdig“. „Es geht um Millionen!“ „Wer ist wir?“ „Weißrussland!“ Ich fand tatsächlich einen japanischen Parkuhrenhersteller – er gehörte zu einem Konzern mit einer eigenen Bank für Kundenkredite. Und Ira fand einen russischen Emigranten, der perfekt Japanisch konnte.

Beim Türken in der Bismarckstraße trafen wir uns zu einem ersten Arbeitsgespräch. Wir waren zu sechst. Nach einigen Raki setzte sich der Wirt zu uns an den Tisch. Er erzählte, sein Bruder habe drei unverkäufliche Eigentumswohnungen in Treptow. Könnte man die nicht – möbliert – als Pension für durchreisende russische Geschäftsleute nutzen: 30 Mark pro Übernachtung? Ira wurde wieder nüchtern: „Wir sind im Geschäft, Mehmet!“

Um es kurz zu machen: Obwohl uns Mehmet einen Freundschaftspreis machte, mussten wir unser letztes Geld zusammenlegen, um die Zeche zahlen zu können. Einmal lieh ich Ira sogar noch 300 Mark für einen Leihwagen. Und laufend verschickten wir beim Einwohnermeldeamt für teures Geld abgestempelte Einladungen an potenzielle russische Geschäftspartner. Währenddessen verfolgte jeder für sich ruckartig alle andiskutierten Geschäfte weiter. Immer wieder kamen neue Anfragen dazu: Holz aus Karelien, Düngemittel aus St. Petersburg. Regelmäßig trafen wir uns bei Mehmet und auf dem Schmachtenhagener Bauernmarkt. Dann – aus Kostengründen – in Iras Kochnische, wo sich ihr neuer Freund aus Kiew, Fotograf und Zollexperte, gelegentlich dazusetzte. Nach einigen Wodka wurde dort aus unserem Euro-Pidgin langsam Küchenrussisch. Die Russlanddeutsche, Vera, sagte: „Meine Towarisch, Partner in Saratow, brauchen Getränkeabfüllanlagen für kleinen Likörflaschen, es muss aber schnell gehen, die Saison beginnt bald.“ Ira brauchte mich bloß noch anzugucken. Ich notierte es mir sofort. Mehmet hatte an jenem Abend seine Frau mitgebracht, eine Georgierin, die er gegen den Willen seiner Familie geheiratet hatte: Sie wollte endlich mal seine „Russen-Mafia“ kennenlernen – wir waren ihr „nicht ganz koscher“. Ira beruhigte sie: „Noch sind wir nicht so weit, erst muss ein Geschäft richtig unter Dach und Fach sein. Und die Provision auf unserem Konto.“ Alle nickten, auch die Georgierin: eine geborene Geschäftsfrau, wie sich dann herausstellte ...

Aber dann kam der Sommer 98 und mit ihm die russische Wirtschaftskrise und der Rubelverfall. Alle Geschäfte verliefen im Sande. Die meisten Großhändler zogen sich zurück. Ich tröstete Ira: „Damit kommt vielleicht die einheimische Produktion langsam wieder auf die Beine. Es ist doch nicht normal, dass die selbst Butter und Joghurt aus Deutschland haben wollten.“ Aber Ira war untröstlich. Sie fuhr an die Ostsee mit ihrer Tochter. Als wir uns danach trafen, hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen: Man hatte ihr eine ABM-Stelle gegeben. Genaugenommen war es eine HZA (Hilfe zur Arbeit), früher LKZ (Lohnkostenzuschuss) genannt. Sie hatte in dem „Kulturprojekt“ bereits einige nette Kolleginnen kennengelernt. Ihnen hatte man allen IDA-, also Integration-durch-Arbeit-Stellen verpasst, da sie meistens schwänzten, hießen diese Integrationsmaßnahmen auch NIDA. „Man endet doch immer wieder im Sozialismus“, meinte Ira lachend. Ich machte daraus später – für 330 Mark – eine Geschichte: „Die lachende Sibirierin“. Helmut Höge